Jean Pauls Fliegenzucht

Rudolf Wagner, Jugenderinnerungen

 

… eine der mir bekannt gewordenen anmutigsten Anekdoten … ist folgende. Jean Paul ließ sich von Zeit zu Zeit einen Schüler des Gymnasiums empfehlen, der eine gute Hand schrieb, zugleich bedürftig war, und dem er etwas zum Abschreiben anvertrauen konnte. Ein solcher war wieder einmal von meinem Vater ausgewählt worden, aus dessen eigenem Munde erfuhr ich das nachstehende Ereignis, kurz nachdem es vorgefallen war.

Es ist bekannt, daß Jean Paul sich mit Meteorologie, namentlich zum Behuf von Wetterprophezeiungen, abgab, wozu er sich verschiedene Tiere, besonders Laubfrösche, hielt. Um diese im Winter mit Futter zu versorgen, bewahrte er, solange es möglich war, große Brummfliegen (Musca vomitorial) auf, die er merkwürdigerweise in einen Kanarienvogelbauer einschloß, das er mit ganz dünnem Flor umgeben hatte, worin er die Fliegen reichlich fütterte, die sehr träge und unbehilflich sich darinnen bewegten und umherkrochen, wie ich dies oft gesehen habe.

Bei dem eigenthümlichen Mitleid, das Jean Pauls weichherzige Seele mit den Tieren hatte, tat ihm auch die Gefangenschaft der Fliegen leid. Auch glaubte er, dieser Zustand sei denselben als Nahrung für die Laubfrösche nicht heilsam. Er meinte, es gehe wie mit dem Wildbret, das nur im Freien, nicht im Zustand der Zähmung das gute Fleisch erhalte, welches dasselbe zu einer so gesunden und wohlschmeckenden Nahrung mache.

Nun lag zwischen dem von ihm als Arbeitsstube benutzten, soviel ich mich erinnere, dreifenstrigen Eckzimmer und den Wohnräumen der Familie ein zweifenstriges Vorzimmer, zu welchem man unmittelbar durch eine den Fenstern gegenüber gelegene, auf die Haustreppe führende Türe gelangte. Oft sah ich, daß Jean Paul im Herbst und Winter an die von der Sonne erwärmten Scheiben der Fenster dieses Vorzimmers seine schwerfälligen Fliegen setzte, wo sie ruhig an den Holzleisten herumkrochen. Nach einer oder einigen Stunden kam Jean Paul mit seinem Vogelbauer und setzte die Fliegen wieder hinein.

Der Gymnasialschüler, welchen mein Vater als Abschreiber empfohlen hatte, meldete sich in einer solchen Freiheitsstunde der gefangenen Tierchen und wurde zum einstweiligen Warten in das Vorzimmer geführt. Mit Staunen bemerkte er die Unzahl von Fliegen, und sogleich faßte er den Entschluß, sich bei Jean Paul im voraus Verdienste zu erwerben. Er trat ans Fenster und drückte eine Fliege nach der anderen tot. Mitten in diesem Geschäfte hörte er eine Bewegung im anstoßenden Arbeitszimmer; es schien, daß Jean Paul sich erhob. Der junge Mann, in dem Gefühle, daß gute Taten im Verborgenen vollbracht immer am schönsten sind, trat bescheiden an die Türe zurück, durch die er von der Treppe und Hausflur gekommen war. Es öffnete sich die Türe nahe am Fenster, Jean Paul trat aus seinem Arbeitszimmer heraus mit dem umflorten Drahtbauer in der Hand, mit dem Blick gegen das Fenster gerichtet. Zum Erstaunen und nicht geringen Schrecken des Fliegentöters sah dieser, wie Jean Paul das Türchen des Bauers öffnete, einige Fliegen hineinsetzte, aber sehr bald auf dem Boden das Totenfeld entdeckte.

Er stieß einen Schrei aus und rief sogleich nach der gegenüberliegenden Zimmertüre seiner Frau. Indes hatte der Schüler auch vollständig seine Situation erkannt, sich ganz leise und wirklich unbemerkt völlig an die Treppentüre zurückgezogen, diese mit leisem Fingerdruck geöffnet, sich durchgezwängt; er stürzte die Treppe hinab und lief atemlos auf der Straße auf und davon.

Der Schüler war der spätere wackere Stadtpfarrer und Universitätsbibliothekar Dr. Irmischer in Erlangen. ... Das Ereignis datiert sich aus den Jahren 1816 oder 1817. ...

 

Aus Eduard Berend »Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten der Zeitgenossen«