Großer Waldstein - Weißenstadt - Grub
Den kompletten Verlauf des Jean-Paul-Wegs finden Sie hier: Literaturportal Bayern
Sonntag, 12. August 2012. Wir beginnen unsere Etappe natürlich wieder am Großen Waldstein. Dafür parken wir bei der Bushaltestelle, wo wir gestern Abend in den Bus gestiegen sind. Wir wollen noch einmal den kurzen Weg zurück zum Waldstein, dann weiter über Weißenstadt zum Dörfchen Grub. Das sind circa zwölf Kilometer. Uns reicht das.
Das Wetter ist fantastisch. Endlich einmal purer Sonnenschein und blauer Himmel. Es ist noch früh am Tag, als wir am Waldsteinhaus ankommen. Alles still und menschenleer. Heute, an diesem schönen Sonntagmorgen im August, ist das wohl eine Art Ruhe vor dem großen Sturm.
Peter steigt nun auch zu den Waldsteinfelsen hinauf, um selbst Fotos zu machen. Ich kaufe ein paar Ansichtskarten und schreibe heitere Nachrichten für die Daheimgebliebenen. Und – ich staune: Es gibt tatsächlich einen Briefkasten hier oben. Der muss doch genutzt werden!
Die unfreiwillige Komik der Radfahrer
Während ich in den ersten Sonnenstrahlen sitze und vor mich hin schreibe, rauschen Radfahrer schon durch das eigentliche Ausflugsziel. Ein einzelner Biker kommt neben einem größeren Holzpodest – es gehört zur »Felsenbühne Waldstein« – zum Stehen, keuchend schaut er sich schnell um, entdeckt auf der Bühne eine sehr kleine hölzerne Kapelle, die Teil der Kulisse eines Theaterstücks ist. Es ist offensichtlich, er kann keine Erklärung für das Gesehene finden. Da ergeben die Steinstufen zu den Waldsteinfelsen doch eine klarere Botschaft: Hier muss man hinauf! Jener Aufforderung folgt er auch prompt, hebt sein Rad auf die Schulter und steigt los, hält dann doch inne und kehrt wieder zurück. Ich versuche, seine Gedankengänge zu ergründen: Das wird zu eng zwischen den Felsen! Das Fahrrad, wohin damit? … Aber ohne das Sportgerät scheint es keine Wege zu geben. Und schon saust er auch weiter, den Berg wieder hinunter.
Kurz darauf kehrt Peter von seinem kleinen Felsen-Ausflug zurück, und wir entschließen uns spontan zum Sonntagsfrühschoppen. Warum wir dafür in den Gastraum gegangen sind, erklärt sich mir heute nicht mehr. Aber kaum haben wir Platz genommen, »rollt« schon der nächste Radfahrer herein, stürzt zur Theke und hechelt:
»Der Radweg? Wo geht der weiter?«
»Dort hinten, den Berg wieder runter!«, antwortet die Bedienung gebetsmühlenartig ohne vom Zapfhahn aufzublicken.
»Ach, so!«, und schon stolpert er wieder hinaus. Kein Danke, kein Auf-Wiedersehen.
»Wenn man den ganzen Tag in die Pedale tritt, dann schüttelts wahrscheinlich das Hirn derartig nach unten, dass auch die guten Sitten im Arsch sind«, meint Peter.
Ich gehe zur Toilette, dicht gefolgt von einer Radlerin. Sie ist schnell, auch im »Eiergang« mit den klackernden Radschuhen. Sehr schnell. Sie ist vor mir fertig, wäscht sich die Hände ohne ihre Radhandschuhe auszuziehen, und dann findet sie den Knopf am Papierspender nicht. Egal, nass weiter. Sehen und Ansehen sind unwichtig. Hauptsache Rapidität. Sogar im eigenartigen Hockgang auf Matschbeinen ist sie schnell, die Radfahrer-Kaste.
Später finden wir am Waldstein noch das Bärenfang-Gebäude. Hier steht die 2. Tafel »Landschaft zu Jean Pauls Zeiten«.
Waldstein mit Bärenfang
Der Lehrer von Jean Paul, Th. Helfrecht, hat das Fichtelgebirge beschrieben. Es lässt Einblicke zu, wie sich die Landschaft seit dieser Zeit verändert hat.
»Unterhalb der höchsten Felsen bemerkt man zur Rechten einen etwas freien Platz, wo die vormaligen Bewohner des Roten Schlosses Feldbau und einigen Wiesenwuchs hatten.«
J. Th. B. Helfrecht, um 1800
Aus Wikipedia: … Der Bärenfang ist ein Gebäude des 17. Jahrhunderts, in das Bären getrieben und dann gefangen gehalten wurden. Der Bärenfang auf dem Großen Waldstein im Fichtelgebirge ist ein Jagddenkmal und gilt als das einzige erhaltene Gebäude seiner Art. …
Ein interessanter Wikipedia-Eintrag zum Thema »Geschichte des Bärenfangs«! Es lohnt sich, ihn ganz zu lesen.
So schön nach Weißenstadt
Der Weg bergab ist wunderschön, viel schöner, als es die Karte vermuten ließ. Er ist weich, schmal, schattig – wie gemacht für Fidels Pfoten. Überall gibt es etwas zu erschnuppern. Wir staunen über des Pudels eigenes Kino. Jeder einzelne Halm wird besucht, einer nach dem anderen. Dann hält er inne, scheint sich zu überlegen, wie denn der Film eigentlich anfing. Jetzt schnuppert er noch einmal beim ersten Halm nach, um sich des Anfangs zu erinnern. Erst dann, wenn der Verlauf schlüssig ist und damit das Ende zum Anfang passt, trollt er sich weiter.
In der Ferne hört man Familien plaudern. Frauenstimmen plätschern unentwegt, Männer schweigen, vorauslaufende Kinder jauchzen und rufen sich ihre Entdeckungen zu. So sonntäglich.
Doch die in der Karte hier an dieser Wegstelle angekündigte Stationstafel 39 finden wir nicht, obwohl wir lange suchen. Sie wäre ein großer, feierlicher Ostersonntag gewesen und hätte sehr gut gepasst, jetzt.
Versunken in der Natur
.... Nun tritt auch die Erdensonne auf die Erdengebirge und von diesen Felsenstufen in ihr heiliges Grab; die unendliche Erde rückt ihre großen Glieder zum Schlafe zurecht und schließet ein Tausend ihrer Augen um das andre zu. Ach welche Lichter und Schatten, Höhen und Tiefen, Farben und Wolken werden draußen kämpfen und spielen und den Himmel mit der Erde verknüpfen – sobald ich hinaustrete (noch ein Augenblick steht zwischen mir und dem Elysium), so stehen alle Berge von der zerschmolzenen Goldstufe, der Sonne, überflossen da – Goldadern schwimmen auf den schwarzen Nacht-Schlacken, unter denen Städte und Täler übergossen liegen – Gebirge schauen mit ihren Gipfeln gen Himmel, legen ihre festen Meilen-Arme um die blühende Erde, und Ströme tropfen von ihnen, seitdem sie sich aufgerichtet aus dem uferlosen Meer – Länder schlafen an Ländern, und unbewegliche Wälder an Wäldern, und über der Schlafstätte der ruhenden Riesen spielet ein gaukelnder Nachtschmetterling und ein hüpfendes Licht, und rund um die große Szene zieht sich wie um unser Leben ein hoher Nebel. – – Ich gehe jetzo hinaus und sink’ an die sterbende Sonne und an die entschlafende Erde.
Jean Paul »Die unsichtbare Loge«
»Die unsichtbare Loge«. Noch habe ich mich nicht an sie herangetraut. Aber jetzt fange ich an. Bisher konnte ich immer nur hier und da Abschnitte lesen, herausfischen, was eh in mir verblieben ist, von den schönen Worten. Und da finde ich in der »Loge« auch diese wieder: die »Ostindischen Gewürzinseln«. Von ihnen war schon auf Stationstafel 12 in Hof zu lesen. Bei mir genügt es, dass einer nur das Wort »Insel« erwähnt, schon entfaltet sich in mir ein ganzer Blütenbaum von Poesien und Fantasien. So wie bei Shakespeares »Sturm«. Das Stück bräuchte ich hierfür gar nicht mehr zu lesen, theoretisch. »Der Sturm« spielt auf einer geheimnisvollen »Insel«. »Insel!« Ging es Jules Verne auch so?
Die unsichtbare »Unsichtbare Loge«
Oh welch eine Freude! Ich habe sie im Roman gefunden, die Textstelle der Stationstafel 39. Sie leuchtet am Ende der Einleitungskapitel zur zweiten Auflage von Jean Pauls erstem Roman. Der volle Titel lautet: »Die unsichtbare Loge«, Untertitel: »Eine Lebensbeschreibung«, dann: »Motto – Der Mensch ist der große Gedankenstrich im Buche der Natur – Auswahl aus des Teufels Papieren«, dann folgt ein zweiter Titel: »Mumien«, dann: »Erster Teil«, und: »Entschuldigung – bei den Lesern der sämtlichen Werke in Beziehung auf die unsichtbare Loge«, dann: »Vorrede zur zweiten Auflage«, dann: »Vorredner – in Form einer Reisebeschreibung«, dann endlich fängt der Roman an.
Jean Paul versicherte sich wohl gern aller Perspektiven, bevor er zum Eigentlichen des Geschehens kam. Und auch dort verweilte er nie ohne Seitenblicke, Standortwechsel und Zeitverschiebungen, die sich dann auch noch ziemlich labyrinthisch miteinander verstrickten. Wie konnte man damals solchen Geschichten folgen?
Betrachtet man die heutige zeitlose Zeit und die britische Neuverfilmung von Sherlock Holmes, die mit Benedict Cumberbatch und Martin Freeman, die schnell und komplex ist, bei der auch alles ineinander verwoben ist, nein, nicht wie bei Jean Paul, aber doch irgendwie so, dass man kaum mithalten kann, jedenfalls ich nicht, schaue wie gebannt, bin fasziniert, immer wieder, Wiederholung um Wiederholung. Ein mir rätselhaftes Phänomen. Ich lese Jean Paul, bis jetzt nur stellenweise, und bin auf die selbe Art wohlig gebannt. Erfüllt von vollkommener Faszination. So, wie man stundenlang ins Feuer blicken kann, und tief innendrin ahnungslos etwas zu ahnen beginnt.
Es war die Zeit der Geheimbundromane. »Die unsichtbare Loge«, Jean Paul klärt sie nicht auf, soviel kann man sagen. Doch diese unsichtbare Loge ist da. Wir sind alle eigentlich von unsichtbaren Logen umgeben, die unseren Leben zuschauen, um dann auf uns zu wirken, ohne dass man sie dabei sieht. Und das verstört – gestern, heute, und vermutlich auch in Zukunft.
Das eigentliche Ende dieser Vorrede jedoch ist für mich das wirklich Spannende und Entscheidende: Das ist der letzte Satz »Ich trat hinaus – –«. Auf der Tafel wurde er weggelassen.
Hier noch einmal in voller Länge:
»Ich gehe jetzo hinaus und sink; an die sterbende Sonne und an die entschlafende Erde.
Ich trat hinaus – –«
Und dann? Was ist dann mit ihm passiert?
Wir setzen unseren Weg fort, aus dem Wald hinaus, immer sanft bergab. Weite Felder tun sich auf. Wir streifen das Dörfchen Ruppertsgrün vor Weißenstadt und finden dort Stationstafel 40.
Ruppertsgrün – Bärenjagd
Die Richters kamen ursprünglich aus dem Vogtland, aus Oelsnitz. Etwa um 1465 wanderten viele Bewohner dieses Ortes in das Fichtelgebirge aus. Die Richters ließen sich in der Weißenstädter Gegend, in Ruppertsgrün und Voitsumra nieder.
Von Hans Richter, einem Bauern in Ruppertsgrün, der im frühen 16. Jahrhundert lebte, ist folgende Geschichte überliefert: er habe, heißt es beim Chronisten Pöhlmann, »einen Bären oberhalb des Dorfes, allwo dessen Sohn Fritz Richter das Vieh hütete und ein Stücklein Vieh vom Bären angefallen worden, erschossen. Als nun solch Bären totschießen gleich ruchbar worden, hat jedermann dem Bäuerlein deshalb große Furcht und Angst eingejaget. Endlich hat sich das Bäuerlein einen Mut gefasst und hat den erschossenen Bären auf einen Gestellwagen geladen und ist damit auf Bayreuth zu gefahren, hat auch mit seinem Fuhrwagen nicht über den Schlosshof fahren dürfen, sondern den Bären mit Beihilfe seines Sohnes Fritzen, der noch ein geringer Jüngling war, tragend hineinschleppen müssen. Da habe Seine Hochfürstliche Durchlaucht eben herunter auf den Platz gesehen und befohlen den Bären hinauf vor ihn samt den Bauer zu bringen, und als nun dieses geschehen und der tote Bär zur Stelle dalag, da haben dann Seine Hochfürstliche Durchlaucht das Bäuerlein gefragt, ob er diesen Bär totgeschossen habe, das Bäuerlein hierauf treuherzig geantwortet: Ja! Seine Hochfürstliche Durchlaucht ferner ihn gefraget, ob er sich getraue, mehr Bären zu schießen, das Bäuerlein gleichfalls geantwortet: Ja! Wenn es mir nur erlaubt wäre! Hierauf habe es Ihre Durchlaucht auf des Bauern so treuherziges Bekenntnis gnädigst gesprochen: So sollst du Förster zu Weißenstadt werden.«
Er hat ihm das Anvertraute viele und lange Jahre bis an sein Ende ehrlich und rühmlich versehen.
Auf der Webseite von Ruppertsgrün heißt es: … Schon 1346 wird es urkundlich genannt. 1499 hatte es 8 Höfe. 1525 wütete hier die Pest fürchterlich. Im 30-jährigen Krieg musste Ruppertsgrün schwere Schäden erleiden. Damals wurde es letztendlich von seinen Bewohnern verlassen und erst wieder 1661 belebt. 1676 war es noch ringsum von Wald umgeben. 1840 brannten 8 Gebäude bei einem Großbrand total ab. Bekannt wurde das Dorf dadurch, das Hans Richter in der Markgrafenzeit 1650 einen Bären unbefugt tötete. Er zeigte aber viel Mut und wurde schließlich markgräflicher Förster. Er war einer der Urahnen Jean Pauls. …
Aha! Der »Furchtlose« war wohl eher vor der hochfürstlichen Durchlaucht furchtlos als vor dem Bären.
Endlich erreichen wir die Niederungen und kommen schließlich zum See. Wasser! Weiches, weites Wasser. Das tut gut. Der Weißenstädter See ist ein von der Eger und dem Hirtenbach gespeister, künstlich angestauter See und der größte im Herzen des Fichtelgebirges.
Um den See herum führt eine vier Kilometer lange Seepromenade, die heute sehr belebt ist. Skater und natürlich Radfahrer, so viele davon, dass wir Mühe haben, den asphaltierten Weg unbeschadet zu überqueren, da steht nämlich die Stationstafel 41.
Hund und Mensch
Man verbindet sich oft mit einem Menschen, wenn man ihn nach dem Namen seines Hundes fragt.
Wie will man etwas gegen die Hunde haben, da der große ruhig dem kleinen vergibt, und der kleine kühn den größten anfällt. Ich wollte, wir wären Hunde.
Jean Paul »Bemerkungen über uns närrische Menschen«
Der größte Hass ist, wie die größte Tugend und die schlimmsten Hunde, still.
Jean Paul »Hesperus«
Mit einem blutfremden Hunde ist eine Unterredung noch saurer auszuspinnen als mit einem Engländer, weil man den Charakter und Namen des Viehes nicht kennt.
Jean Paul »Hesperus«
Heute geben sie am See ein Fischerfest, ausgerichtet vom Fischerverein Weißenstadt. Beschaulich, einladend. Bier und Bratwürste, Kaffee und Kuchen und Musik. Uns steigt der Duft von Gegrilltem in die Nase. Wir folgen ihm und entdecken eine uns unbekannte Art, Fische zu grillen: Man hat hier einfach Sand auf die Wiese geschüttet, eine blecherne Rinne draufgestellt, sie mit glühender Holzkohle befüllt, und dann mit Fischen bestückte Spieße rechts und links neben der Rinne so in den Sand gesteckt, dass sie sich genau über dem Feuer kreuzen.
Fischgrillen auf dem Fest des Fischervereins Weißenstadt
Wir verweilen und genießen ein braunes Bier. Dann weiter auf der Promenade. Es gibt Parkbänke zuhauf. Von hier aus kann man auch den Großen Waldstein und den Schneeberg sehen. Auf dem See fliegen Surfer und Segler über das glitzernde Wasser. Kinderjauchzen, das leise Plochen von Ballspielen, eingeflochten mit Ohs und Ahs, all das bimmelt uns aus der Ferne Ferienerinnerungen ins Gemüt.
Am Nordufer liegt der Kinder- und Nichtschwimmer-Badestrand. Er fällt besonders flach ins Wasser ab. Hier ist überall Platz genug, sogar am heißen Augustsonntag. Wir baden heute im Sonnenmilchduftsee und dösen ein wenig auf der bunten Kicherwiese.
Und hier finden wir Stationstafel Nr. 42, so schön dazu passend.
Kinder-Spiele
Das Spiel ist die erste Poesie des Menschen […].
Im Tiere spielt nur der Körper, im Kinde die Seele.
Vergeßt es doch nie, daß Spiele der Kinder mit toten Sachen darum so wichtig sind, weil es für sie nur lebendige gibt […].
Ich kenne nämlich für Kinder in den ersten Jahren kein wohlfeileres, […], reines Spielzeug als […] Sand.
Die zweite Spielgattung ist Spielen der Kinder mit Kindern.
Spiele, d. h. Tätigkeit, nicht Genüsse, erhalten Kinder heiter.
Jean Paul, sämtliche Zitate aus »Levana oder Erziehlehre«
Fidel trifft seinen Doppelgänger
Dann findet auch Fidel seine ganz ureigene Freude: Er trifft sein alter ego – einen anderen Pudel. Bei Wikipedia lese ich zu »alter ego«: … Ein wahrer Freund ist gleichsam ein zweites Selbst. … Jean Paul würde hier sagen: seinen »Doppelgänger«. Das Wort »Doppelgänger« ist Jean Pauls Erfindung.
Fidel erkennt seine Doppelgänger immer schon von Weitem. Sofort beginnt er vor Freude zu fiepen und kann sich kaum beruhigen, so heimatlich ist ihm seine Begegnung mit anderen Pudeln. Wirklich, einem Original und seinem Spiegelbild gleich, bewegen sie sich zunächst tänzelnd umeinander, dann folgt sehr respektvolles Schnuppern, unter leichtem Schwanzwedeln. Alles ohne irgendeine Aufdringlichkeit. Dann setzt sich das Ritual so fort, dass sie sich gegenüber platzieren, in der typischen Warte-Liege-Haltung: den Kopf zwischen die Vorderpfoten gelegt.
Natürlich kommen die beiden entzückten Pudelbesitzer sofort miteinander ins Gespräch. Der kleine andere Pudel ist schwarz und gehört einer älteren Dame. Es ist ihr erster Hund. Sie hat noch ein wenig Stubenrein-Stress mit ihrem Schützling. Wir beruhigen sie und sagen, dass sie noch viel Freude mit ihrem neuen Freund haben wird. Sie wolle alles richtig machen, sagt sie, so wie, dass der Hund eigentlich aus dem Schlafzimmer verbannt werden sollte, so hätte man es ihr erklärt. Aber da habe er ihr nachts vor die Tür gemacht.
»Ich weiß schon, dass ich selbst schuld bin», sagt sie. »Weil ich ja so den Hund nicht sehen kann, wenn er Bedürfnisse anzeigt.«
Wir erzählen ihr, dass Fidel auf dem Bett schlafen dürfe. Er haare ja nicht und läge nachts mucksmäuschenstill am Fußende.
»Und«, füge ich hinzu, »auch ein alter Hund wie Fidel muss mal nachts. Dann springt er auf, stellt sich still vor das Bett und wartet, bis ich wach werde. Ich gehe dann mit ihm kurz vor die Tür, und alles ist gut.«
Der Pudel passe sich sehr gerne allem an, einzig dafür, dass er immer dabei sein dürfe. Das Wort »pudelwohl« käme auch nicht von ungefähr, denn der Pudel an sich habe ein derart heiteres Gemüt, dass es jeden anstecke. Jedem Menschen, der uns entgegenkommt, zaubere er ein Lächeln ins Gesicht. Das würde auch uns froh machen.
»Wie heißt er denn?«, will ich noch wissen.
»Paul«, sagt sie.
Und da macht es einen kleinen Jauchzer in unseren Herzen: Da ist Paul! Paul lebt!
Wir sind doch wie die Kinder.
Auch Jean Paul hatte einen Pudel, was wir allerdings erst von Eberhard Schmidt, dem Besitzer des Jean-Paul-Museums in Joditz, erfahren haben. Wer, wenn nicht wir, könnte Jean Pauls Zuneigung zu Pudeln besser verstehen?
Ja, »Hund und Mensch« ist ein langes, schönes und auch schreckliches Kapitel
Jean Paul war ein Freund der Hunde, der Tiere überhaupt – und auch ein Freund der Menschen, was sich nicht immer zwangsläufig bedingt. Wie viele Menschen gibt es, die sich aus Enttäuschung an ihrer eigenen Spezies nur noch den Tieren zuwenden. Da war Jean Paul anders.
Aber bleiben wir bei den Hunden. Es war ein fixes Bild: Dichter mit Hund. Egal, wo Jean Paul erschien. Hierbei spielte das Tier beileibe nicht nur die Rolle eines Begleiters, sondern die eines nahezu ebenbürtigen Kommunikationspartners. Zuerst war es sein Spitz, genannt Alért. Er muss alt geworden sein.
Zunächst das Schöne
Folgende Zitate stammen aus Eduard Berends »Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten der Zeitgenossen«:
1817 schreibt Heinrich Voß d. J. (Prof. der Philologie in Heidelberg, Übersetzer 1779‒1822) an seinen Bruder Abraham Voß (Philologe, Schulmann, Übersetzer, 1785‒1847): … Des Morgens um 1/2 8 Uhr geht Jean Paul mit seinem Hund und dem Schreibzeuge und einer Flasche Wein auf die Sattler-Müllerei, und vor dem Gartenhäuschen oben auf der Höhe setzt er sich zum Arbeiten hin. Nun sind in allen Häusern, die Fenster dahin haben, Tubus [Fernrohr] auf ihn gerichtet; und gestern machte ich mir den Spaß, ihn auch ein paar Stunden durch unseren Dollondschen [John Dollond, Erfinder des Achromatischen Teleskops] zu beobachten. Er saß da ganz nachdenklich und begeistert, schrieb – manchmal mit Hast, dann wieder piano –; dann nahm er ein Schlückchen Wein; dann kappte er die Feder; dann sprach er mit seinem Hunde Alért, was höchst komisch aussah, da man die Worte bloß sah und nicht hörte; dann spazierte er auf und ab, besah die Gegend und schrieb wieder. Daß er in der Einsamkeit so viele Zeugen hat, ahnet er nicht …
Im selben Jahr schreibt Woldemar von Dittmar (baltischer Jurist und Schriftsteller, 1794‒1826) in sein Tagebuch: … Zu Frau von Ende, als diese seinen Hund füttern und derselbe seinen Gebieter nicht verlassen wollte, sagte Jean Paul: »Er liebt mich mehr als Ochsenfleisch.« Und als der kleine Emil Thibaut sich von Alert zum Andenken Haare abschneiden wollte, gestattete Jean Paul dieses und setzte dann noch hinzu: »Man liebt in Heidelberg meinen Hund so sehr, als ob er einen Band zu meinen Werken geschrieben hätte.« …
Der Locken- und Haarkult betraf nicht nur den Hund, sondern auch den Dichter selbst. Die Damen seiner Zeit schnitten ihm derartig die Locken zur Reliquienverehrung ab, dass eine Unsymmetrie auf seinem Kopf entstand, die er in Bayreuth wieder richten lassen musste. Sein nächster Hund, der weiße Pudel Ponto, sollte dann ebenso Opfer der Begierden werden.
Mariette Zoeppritz, geb. Hartmann, schrieb 1819: … überall, auch in größter Gesellschaft, war sein Pudel Ponto, des Dichters unzertrennlicher Begleiter. Es war ein schönes Tier, blendend weiß und fein gelockt, und man erzählte sich, daß in Heidelberg … der Mann, dem der Auftrag geworden war, den Hund zu scheren, ein großes Glück damit gemacht habe, weil sich die Damen um die Löckchen rissen und bis zu einem Dukaten für eines bezahlten! …
Pudel Ponto war überall dabei: auf Reisen in den Kutschen, bei Wanderungen, in Gasthäusern, auf Gesellschaften und vor allem auf den Sofas in den jeweiligen Schreibstuben seines Herrn, immer auf der Nordseite dösend, so, dass der Meister seinen Kopf auf den Pudel legen konnte – einnickend, schlummernd, lesend oder denkend. Immer blieb Ponto ruhig liegen; er war es gewohnt und genoss es. Dabei sein ist alles!
Ludwig Rellstab, ein Berliner Musikschriftsteller, beschreibt im August 1821 eine köstliche Episode, die ich hier unbedingt ausführen möchte. Bei einem Besuch in Bayreuth, zunächst: … Plötzlich rief aus der bewegten Menge eine Stimme zu mir herauf: »Guten Morgen!« Es war Jean Paul, der mitten unter der fröhlichen Jugend vorüberzog. Er hatte einen gelbbraunen Überrock an, einen schwarzen Strohhut auf und trug eine Art von Reisetasche über den Schultern, in der er seine Manuskripte bewahrte. Sein treuer gelehriger Pudel, Ponto, von dem ich noch später zu erzählen habe, sprang neben ihm her. […]
Ich habe dem Leser ein kleines Anhangskapitel über Jean Pauls Hund, einen weißen Pudel, Ponto genannt, versprochen, von dessen Geschick und Verständigkeit der Herr mich gleich bei meinem ersten Besuch mit einem gewissen freudigen Stolz Proben sehen ließ. Früher hatte Jean Paul einen Spitz gehabt, dessen Haar die Damen abschnitten, um es gelockt in Ringen und Medaillons zu tragen … Ihn habe ich nicht mehr kennen gelernt und weiß von seinen letzten Schicksalen nichts allein der muntere gelehrige Pudel Ponto ist mir treu im Gedächtnis geblieben. Er mischte sich sogleich zutraulich durch Knurren, Anspringen und Wedeln ins Gespräch und erhielt die ihm verständlichen Antworten durch allerlei Liebkosungen und freundliche Zurufe, »Ich beschäftige mich gern und viel mit Tieren und besonders mit Hunden,« sagte mir Jean Paul, indem er mir seinen Ponto gewissermaßen vorstellte; »sie sind viel verständiger und feiner organisiert, als man glaubt. Geben sie nur acht, wie fein z. B. das Ohr dieses Tieres unterscheidet.»
Er bot ihm darauf einen Bissen dar, mit dem Laut »va« (kurz gesprochen). Ponto rührte ihn nicht an. Der Herr sagte ebenso kurz »da«, und der Pudel schnappte vergnügt zu. »Es liegt nicht im Ton,« erklärte Jean Paul, »denn ich spreche eins so freundlich wie das andere, ja ich will das ›va‹ freundlich und das ›da‹ zurückweisend sprechen, der Hund wird sich nicht irren.« Wirklich zeigte Ponto, daß er seiner Sache gewiss sei, und verschnappte sich im buchstäblichen Sinne des Wortes auch nicht ein einziges Mal, wie vielfältig sein Herr auch mit dem »da« und »va« wechselte …
Da mich das Spiel ergötzte, nahm der Herr plötzlich eine ernsthafte Miene an und sprach sanft verweisend: »Ponto! was hast du angestellt?« Sogleich zog der arme Ponto, ein Sünder wider Willen (wie viele Menschen auch), den Schweif ein und kroch scheu, mit bestürzter Physiognomie unter den Ofen. »Dort bleibt er liegen, bis ich ihm Verzeihung angedeihen lasse,« sagte Jean Paul. Ich fragte, ob der Hund lange dabei ausharre; »stundenlang, halbe Tage,« war die Antwort. Wirklich blieb Ponto mit dem aufgenötigten bösen Gewissen unbeweglich und traurig hinter dem Ofen liegen, bis endlich der Herr die Worte der Amnesie sprach: »Es ist schon gut, komm nur her.« Da sprang der Begnadigte freudig bellend und knurrend hervor und wußte sich im Übermaß seines Glückes kaum zu fassen.
Nach dem Häuschen der Frau Rollwenzel [Wirtin der »Rollwenzelei«, eines Gasthauses in Bayreuth. Bei ihr durfte Jean Paul die letzten 20 Jahre seines Lebens eine Dichterstube bewohnen.] hatte Ponto seinen Herrn, als wir an jenem Nachmittage dort zusammenkamen, ebenfalls begleitet. Wenn das Gespräch sich auf unserem Rückwege sich nach einer Richtung hin ausgelaufen hatte und eine augenblickliche Stockung eintrat, füllte Ponto mit seinen Künsten die Zwischentakte aus: Jean Paul beschäftigte sich mit ihm beiläufig, wie etwa ein gelehrter Raucher mit dem Ausklopfen oder Anzünden einer Pfeife unter der angestrengtesten Arbeit. Natürlich gab das freie Feld dem Hunde mehr Spielraum, seine Künste zu zeigen. Manche habe ich vergessen, so überraschend sie zum Teil auch waren, doch eines blieb mir im Gedächtnis. Auf ein ernstes Wort von seinem Herrn ging Ponto ehrsam zwei Schritte von seinem Stiefel neben ihm, ohne ihn auch nur durch den geringsten Seitensprung zu verlassen. Er marschierte streng im Gliede wie ein Soldat. Sowie jedoch der Herr die Worte »Ponto, Sassa!« aussprach, schoß der Hund mit eiligen Sprüngen in weiten Bogen ins Feld und umschweifte seinen Herren in entfernten Kreisen unter lautem, fröhlichen Gebell, die gestattete Freiheit ordentlich mit Übermut genießend. Doch mitten in die fröhlichen, burlesken Sprünge hinein erscholl seines Herren Wort (es ist mir hier gegangen wie dem Zauberlehrling, das Bannwort der Rückkehr zum Gehorsam habe ich vergessen), und auf der Stelle trabte der gehorsame Ponto wieder zwei Schritte seitwärts von dem linken Stiefel seines Gebieters ehrsam und ernsthaft dahin, und nichts, weder ein anbellender Kollege, noch selbst ein vorbeischlüpfendes Kätzchen unterbrach seine Subordination auch nur einen Augenblick …
So ist er, der Pudel. In Fidels jüngeren Jahren genügten Handzeichen, Händeklatschen oder was auch immer zur Kommunikationsübertragung diente. Er schien das Gemeinte zu erraten, zu erahnen, zu verinnerlichen. Alles verstand er.
»Und lesen und schreiben kann er auch!«, meinte Geli, eine Hundeliebhaberin aus Hollfeld, unserem früheren Wohnort.
Heute, während ich dies schreibe, im Jahr 2016, ist Fidel 17 Jahre alt, beinahe taub und wegen des Grauen Stars fast blind. So verständigen wir uns über Geruch – leider nur hundseitig – und über Erderschütterungen, zum Beispiel wenn ich ins Zimmer trete, und vor allem über Körperkontakt. Letzteres am liebsten, weil wir uns so immer beieinander wahren. So sind wir am Ende, wie alles Leben: eins.
Nun, das Schreckliche
Wie hoffnungsglaubenlos ziehen mich dann die Zeilen von Richard Otto Spazier (Neffe und Biograf Jean Pauls, 1803‒1854) in das immer alles beendende Jammertal unserer Erde.
Dresden, im Mai 1822: … Aber einen wahrhaft tief ihn empörenden und entrüstenden Auftritt bereiteten ihm eines Tages [15. Mai] die Lakaien einer adligen Familie, ich glaube, es war die des Grafen von der Malsburg [lyrischer Dichter und Übersetzer in Dresden, 1786‒1824] oder Kalkreuth [lyrischer Dichter in Dresden, 1790‒1873], wo er zu Tische geladen worden. Er hatte dorthin, wie überall, wohin er ging, seinen weißen Pudel, seinen beständigen Gefährten, mitgenommen, und derselbe war wirklich gewohnt, überall von den Frauen gepflegt und gehätschelt zu werden. Die Dresdener Adelslakaien waren aber im höchsten Grade entrüstet über die Frechheit dieses Bürgerlichen, einen Hund in das Haus ihrer adeligen Herren mitzubringen. In ihrer Wut begingen diese rohen Gesellen die Unmenschlichkeit dem Hunde brennendes Terpentinöl in die Ohren zu gießen. Hatten sie darin irgendeinem adeligen Befehle gehorcht? Genug, das arme Tier, von verzweifeltem Schmerz getrieben und Schutz bei seinem Herrn suchend, der eben an der vornehmen Tafel saß, stürzte winselnd und heulend auf denselben zu, über den mit Schüsseln, Flaschen und Gläsern besetzten Tisch hinweg, dieselben klirrend umwerfend und zum Teil zerbrechend. Mitten unter dem allgemeinen Falle erhob sich Jean Paul im tiefsten Zorne, beruhigte seinen armen Hund und entfernte sich, alle Entschuldigungen zurückweisend, »die Bestien« verwünschend, die ein armes Tier so hatten quälen können. …
Ich glaube, Jean Paul wollte diese scheinheilig vornehmen Hochwohlgeborenen nie wieder sehen. Wahrscheinlich handelte es sich ohnehin nur um eitle Pseudodichterfürsten, die ihre Dienerschaft vortrefflich zu demütigen wussten, während diese wiederum, in bester Hackordnungsmanier, die nächstverfügbaren Rangniederen zurückquälen mussten. Die ewig ewigkeitslose Melodie des Kein-Menschseins im pulslosen Erdenrund. Sicherlich war Ponto noch nicht einmal nachtragend, weil Pudel niemals nachtragend sind.
(Eduard Berend, 1883‒1973, war einer der Jean-Paul-Forscher. Als Jude wurde er während der Nazizeit aus der Jean-Paul-Gesellschaft ausgeschlossen und im KZ Sachsenhausen interniert.)
So, und jetzt brauche ich definitiv was Schönes! Das ist Weißenstadt!
Ein feines, kleines Städtchen!
Irgendwie ist die Stadt, wie sie klingt. Hell und freundlich. Bisher sind wir hier immer nur durchgefahren. Wie lieb uns da schon der Marktplatz schien. Quirlige Lädchen und kleine Cafés überall. Jetzt, wo wir durch das Städtchen laufen, und hier und da nach rechts und links schauen, fügt sich alles zu einem Bild, das verspricht: Hier bist Du aufgehoben. Im Ackerbürgerstädtchen Weißenstadt.
Durch schmale Gassen, vorbei an Bauerngärten und Teichen, auf denen sich Enten tummeln, da, ein Bachlauf, und dann an der Eger entlang, so ein süßes Städtchen ist es.
Ja, richtig!, kommt es uns in den Sinn. Da war doch der Campingplatz am See schon so scheu und respektvoll hinter einer Hecke versteckt. Am See fanden wir auch das Hinweisschild »Auf Fußgänger ist Rücksicht zu nehmen«, es gab Hundekotbeutel, und dann die schöne Infostätte im Kurpark, wo einem wirklich Eger, Wasser, Natur und Fauna lebendig nahegebracht werden. Und noch besser die Öffnungszeiten: April bis November – 9 bis 20 Uhr, November bis April – 9 bis 18 Uhr. Und wundervoll: dort gibt es auch ein WC!
Man kümmert sich hier gerne, wo anderenorts Sich-Kummer-machen wie aus der Mode gekommen scheint.
Am Kurpark steht Stationstafel 43.
Borsdorfer Äpfel – auch vom Baum der Erkenntnis
Mit demselben Vergnügen, womit man unter dem verwelkten Laube im Frühling einen Apfel des vergangnen Jahrs entdeckt, vermehret man seine Jugendgeschichte mit einer neuen Erinnerung.
Es ist mir so lieb, als wenn ichs selber wäre, daß gerade mein Held durch eine größere heitere Besonnenheit der Denkfreiheit von ihnen allen unterschieden war – ich meine jenes sokratische helle Auge, das frei über und durch den Garten der Bäume des Erkenntnisses umherblickt und das wählet wie ein Mensch, anstatt daß andre vom Instinkt irgendeinem Satze, irgendeinem Apfel dieser Bäume ausschließend zugetrieben werden, wie jedes Insekt seiner Frucht.
Jean Paul »Hesperus, oder 45 Hundposttage. Eine Lebensbeschreibung« Berlin, 1795
Man sollte sich aber freilich in allem mäßigen, im Schreiben, Trinken und Freuen; und wie man den Bienen Strohhalme in den Honig legt, damit sie nicht in ihrem Zucker ertrinken, so sollte man allezeit einige feste Grundsätze und Zweige vom Baume des Erkenntnisses in seinen Lebenssirup statt jener Strohhalme werfen, damit man sich darauf erhielte und nicht darin wie eine Ratte ersöffe.
Jean Paul »Leben des Quintus Fixlein – aus fünfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mußtheil und einigen Jus des tablette« 1794/95 entstanden und 1796 in Bayreuth erschienen
Unter den Menschen und Borsdorfer Äpfeln sind nicht die glatten die besten, sondern die rauen mit einigen Warzen.
Als wir das Städtchen verlassen, entdecken wir auf jener Wiese wieder »unseren« Storch – oh nein, schau, es sind ja zwei! Ein Storchenpaar! Täglich sind sie uns auf der Heimfahrt eine Augenweide. Störche sind irgendwie immer da, ziehen ihre Kreise über unserem Zuhause, und wir alle wissen, wer sie sind, wir kennen sie, warten auf sie, Jahr für Jahr. Immer-daseiende-Wesen machen uns glücklich. Tief in unserer Seele brauchen wir etwas, das fern unseres Einflusses lebt.
Hilde, nicht schon wieder tiefsinnig werden! Jetzt kommt Gott sei Dank Stationstafel 44.
Schulstunde in Fluchen und Schimpfen
Nach diesem Normal hatten wir heute […] lateinisch das Fluchen und Schwören vorzunehmen und abzutun, womit ich noch das Schimpfen verband. […]
In Kirchenlamitz trieb uns ein Guß ins Wirtshaus, wo wir das Fluchen fortsetzten. Ich beobachtete mit einiger Belustigung das Erstaunen so pöbelhafter Menschen, als Wirtsleute sind, das sie befiel, da ich meinen Schülern – an einem solchen Schimpffeste, als die Alten wirklich am Bacchusfeste und die Ephesier am 22. Januar begingen und jetzt noch die Neuern an Weinlesen und auf der Themse – schwere Schimpfreden und Flüche aus Sachsenhausen zum Vertieren vorlegte, als: ›Der Teufel soll dich zerreißen, das Donnerwetter soll dich neun Millionen Meilen in den Erdboden schlagen‹; wobei der Lehrer immer mit Phrasen dem Lehrling unter die Arme greifen muß.
[…] Wir wurden nach und nach dem Wirte verdächtig durch mein Fluchen […]
Jean Paul »Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg«
Aus »Leben des Quintus Fixlein – aus fünfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mußtheil und einigen Jus de tablette«
»Fälbel« ist der 4. Text der »Jus de tablette (eine Art Brühwürfel) für Mannspersonen«
1794/95 entstanden und 1796 in Bayreuth erschienen
Der Weg nach Grub ist so schön,
dass wir heulen könnten. Wir laufen auf frisch gemähten Graswegen, die immer noch duften. Fidel springt und hüpft heiter voraus …
… bis zur Stationstafel 45, welche direkt neben einem bunten Bauwagen steht.
Es ist verboten!
Es ist derselbe Mann, welcher die zehn Gebote an die Stubentür als an eine Gedächtnissäule ankreidet, damit der Junge sie stets vor Augen habe – welches das kräftigste Mittel ist, sie aus den Augen zu verlieren. Die meisten elterlichen und hofmeisterlichen Gebote gleichen der Inschrift auf gewissen Türen: »Tür zu«, welche dann gerade nicht zu lesen ist, wenn man die Tür offen gelassen und an die Wand gelehnet hat.
Wollt ihr das Heilige verwüsten, so hängt eine Gebotentabelle euch vor das Auge.
Verbote wirken nichts, aber Beispiele der Milde tun alles, entweder erzählte oder gegebne, Ton und Tat.
Jean Paul, sämtliche Zitate aus »Levana oder Erziehlehre«
Der Bauwagen mit den Aufschriften »Haus der Kinder« und »Zum guten Hirten« scheint eine Art Außenstelle der Schule oder des Kindergartens zu sein.
Wir wandern weiter; es ist schon später Nachmittag. Langsam schmerzen unsere Füße, jedoch erfahren sie Salbung, denn der Weg bleibt schön und sanft. In der Ferne die blauen Berge für die Augen. Wurzeln, Baumstümpfe, duftendes Nadelholz, so typisch an heißen Abenden. Jetzt wäre ich gerne wieder ein junges, zartes Liebespärchen. Ganz jung, wie in meiner Zeit damals, als man sich noch heimlich treffen musste, während Dämmerstunden an versteckten Plätzen – immer »auf der Hut« vor zufälligen Begegnungen. Schließlich könnte jeder zum Verräter des geheimen Stelldicheins werden.
Alles könnte passender nicht sein: Hier wartet auf uns schon lange die 3. Tafel »Landschaft zu Jean Pauls Zeiten«.
Von der Hut zum Wald
»Bey Weißenstadt begrenzen hohe Berge in einem halben Zirkel eine ziemlich kahle Fläche. Große wenig ergiebige Plätze, steinichte Hügel und Abhänge, dürre Huften, magere Wiesen und Teiche nehmen den größten Raum des Bezirkes ein.«
J. Th. B. Helfrecht, um 1800
Der Vermessungsoffizier Johann Christoph Stierlein hat 1780–1788/89 für den Markgrafen Alexander die geheime Militärkarte vom Markgrafentum Bayreuth gefertigt. Der Ausschnitt um den jetzigen Standort zeigt eine offene Landschaft, mit großer Wahrscheinlichkeit Hutflächen, ohne Bäume. Der Wald ist erst im 19. Jahr-hundert auf schlechten Hutungsflächen aufgeforstet worden. Die besseren Böden wurden zu Äckern umgebrochen. Die Melioration der Gemeinschaftsflächen und die Stallhaltung wurden in den Büchern von Helfrecht als Fortschritt beschrieben. Der hiesige sandige Boden entsprach besonders dem Kartoffelanbau.
»Melioration« bedeutet »kulturtechnische Maßnahmen zur Werterhöhung des Bodens«.
»Die Hut«, das waren magere, baumlose, wertlose Flächen außerhalb der Ortschaften. Hier wurde gemeinschaftlich das Vieh hingetrieben und gehütet.
Trauer in Grub
Und dann erblicken wir das zu dieser »Hut« dazugehörige Dorf: Grub! Wenn man sie nicht immer schon von Weitem erkennen könnte: die gewalttätigen Dörfer mit ihren vielen Viehfolterhallen am Rand und den riesigen Fuhrparks der Agrarkampfmaschinen. Alles EU-gefördert. Solardächer blenden, kein Haus ohne. Kein einziges, übrig gebliebenes Idyll zu finden, nur allzeit gehuldigtem Ertrag Unterworfenes.
Und wie sollte es anders sein: Auf dem Dorfplatz wurde wieder Jean Pauls Stationstafel direkt zwischen hässlichen Glas- und Müllcontainern deponiert. Aus der Ferne könnte man meinen, es handele sich um ein Schild mit der Aufschrift »Ablagern von Müll und Schutt verboten«.
Und – seltsam: Schaut man sich um, entdeckt man gegenüberliegend den Dorfteich mitten in großer grüner Wiese, von hübschen Sitzbänken umrahmt. Aber da darf Jean Paul nicht verweilen – der gehört neben den zu ertragierenden Recyclingmüll, »sonst machen ja noch die vielen Wanderer die schöne Wiese kaputt«. War das das Argument? Oder ging es um Grundstücke?
Ich glaube, dass man für Grub den Text »Kartoffel-Freuden« ausgesucht hat, weil Herr Helfrecht davon sprach, dass man, wenn man auf der kargen Hutlandschaft Kartoffeln anbauen würde, man weitaus mehr Ertrag erzielen könnte.
Hier Jean Pauls »Kartoffel-Freuden« auf Stationstafel 46.
Kartoffel-Freuden
In den Herbstabenden (noch dazu an trüben) ging nämlich der Vater im Schlafrocke mit ihm und seinem Bruder auf ein über der Saale gelegenes Kartoffelfeld; der eine Junge trug eine Grabhaue, der andere ein Handkörbchen. Draußen wurden nun neue Kartoffeln, soviel für das Abendessen nötig waren, vom Vater ausgegraben; Paul warf sie aus dem Beete in den Korb, während Adam an dem Haselnußgebüsche die besten Nüsse erklettern durfte. Nach einiger Zeit mußte dieser von den Ästen herunter ins Beet und Paul stieg seinerseits hinauf. Und so zog man denn mit den Kartoffeln und Nüssen zufrieden nach Hause; und die Freude, auf eine Viertelstunde weit und eine Stunde lang ins Freie gelaufen zu sein und zu Hause bei Lichte das Erntefest zu feiern, male sich jeder selber so stark wie der Empfänger.
Jean Paul »Selberlebensbeschreibung«
Fragment, 1818/19 geschrieben, 1826 von Jean Pauls Freund Christian Otto herausgegeben
Unser literarisches Küchenpersonale weiß uns dasselbe goutée [Geschmackströpfchen] unter dem Scheine sechs verschiedner Schüsseln auf
das Tischtuch und in den Mund zu spielen und belustigt uns zweimal im Jahr mit einer Nachahmung des berühmten Kartoffel-Gastmahls in Paris: anfangs kam bloß eine Kartoffelsuppe – dann schon mit anderer Zubereitung wieder Kartoffeln – das dritte Gericht hingegen bestand aus umgearbeiteten Kartoffeln – auch das
vierte – als fünftes konnte man nun wieder Kartoffeln servieren, sobald man nur zum sechsten neu brillantierte Kartoffeln bestimmte – und so ging es durch 14 Gerichte hindurch, wobei man noch von
Glück zu sagen hatte, daß wenigstens Brot, Konfekt und Likör den Magen aufrichteten und aus Kartoffeln bestanden. – –
Jean Paul »Hesperus«
Nein, warum sollten wir hier einkehren? Taxi rufen und weg. Menschen wie wir stören hier nur. Grub hätte man auslassen können, wer hätte es vermisst?
Fidel ist heute todmüde und schläft sofort. Seine Knabber-Schweineohren lässt er links liegen. Wir ziehen uns noch die Schlussfeier der Olympischen Spiele 2012 in London rein, doch die ist enttäuschend langweilig. Nur singende Weltstars. Ein Stadion mit Musik zu rocken, ist im Zeitalter von DJ Ötzi und Ballermann keine Kunst.
Oh Mann, wie kriegt man diese seltsame, plötzlich aufkommende schlechte Laune wieder los? Obwohl doch alles heute so schön war? Komm mir jetzt bloß keiner mit »Positiv Denken« …
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