Sparneck – Großer Waldstein
Den kompletten Verlauf des Jean-Paul-Wegs finden Sie hier: Literaturportal Bayern
Zurück ins Jahr 2012. Samstag, 11. August. Vom gestrigen »Papst-Benedikt-Trunk« und einem darauffolgenden guten Schlaf gestärkt, starten wir heute in Sparneck. Noch einmal geht es zurück zur Stationstafel 32 mit dem Titel »Taufpatenpolitik«. Hier sind alle Taufpaten der sechs Kinder von Jean Pauls Bruder, Gottlieb Richter, aufgeführt. Auf der schwer verständlichen und verwirrenden Tafel ist Jean Paul bei keinem der sechs Kinder als Pate zu finden.
Im Ort entdecken wir noch eine zweite Stationstafel 32.
Bruder Gottlieb in Sparneck
Jean Pauls Bruder Gottlieb Richter lebte von 1797 bis 1809 in Sparneck. Er war Rendant, also Steuereinnehmer und hatte eine große Familie zu versorgen. Einige Briefe des Dichters Jean Paul an seinen Bruder haben sich erhalten:
»[…] Bekomm’ ich keine Kinder: so mußt du mir und meiner Frau einen von deinen schönen Genien (Engeln) leihen zum Erziehen; in 1 Jahr hast du die Lücke wieder gefült. […]«
Meiningen d. 30 März 1802.
»[…] Ich war 6 Wochen fast in Berlin und ziehe im Herbst auf den Winter dahin, weil man mich da so gut aufnahm; dein Magen und Schlund wäre da mehr am rechten Ort gewesen als meiner. Ich as auch bei der Königin, und Hardenberg wolte mich sehen (ich kont’ aber nicht) Diese Nachrichten, die für dich Manna und Adelsbriefe sind, klebe nach deiner Manier an die Wirtshausthüren fest, um den Biergästen zu zeigen, was dein Bruder ist und folglich – seiner in Sparneck. Ernstlich ich schreibe ich dirs, damit du siehst, daß ich im Falle einer nähern höhern Amtsstelle leicht für dich wirken kan. […]«
Weimar d. 10 Aug. 1800 .
Später versuchte er ihm eine bessere staatliche Stelle zu verschaffen:
»[…] Eben hab’ ich an Schuckmann für dich geschrieben. Otto meint aber, du würdest dich in Erlang mit 700 fl. schlechter stehen als in Sparneck mit 300. Vogel kann nichts dabei thun; […] Du solltest in Holland leben, oder in Rom, wo man für das dritte Kind (jus trium liberorum) ein douceur vom Staate bekam; du würdest ein Millionär.
Vielleicht thu’ ich bald auf einer Fahrt nach Hof drei Seitenschritte zu dir, um deinen gelehrten Heinrich, der wirklich für seine Jahre eine schöne Hand schreibt, aus der meinigen mit etwas besserem zu belohnen als mit Lettern. […]«
Bayreuth d. 20 Jenn. 1805.
Noch am 8. Mai 1823 wünschte Jean Paul dem Sparnecker Bruder alles Gute zum Geburtstag:
»[…] Und möge dein Jahr und dein Leben nichts sein als der verlängerte Mai deiner Geburt! […]«
Jetzt laufen wir frohgesinnt hinauf zum Großen Waldstein. Er ist mit seinen 877 Metern die höchste Erhebung des Waldsteinzuges im nördlichen Fichtelgebirgs-Hufeisen, so steht es überall geschrieben. Mit seinen mystisch, mächtig aufsteigenden Felstürmen auf dem Gipfel ist er bestimmt der schönste Berg des Fichtelgebirges. Ich freue mich, denn oben, heißt es, gibt es auch Klöße und Bier. Eine Einkehr am Ziel des Weges durchströmt unser Wandererherz mit purer Freude, schon lange vor und noch lange nach der Wanderung, ich kann es nicht verbergen.
Unten ist es noch bewölkt und windig. Wir laufen auf schmalen Asphaltstraßen, vorbei an Stationstafel 33.
Wie das weiche Obst
Die Menschen gleichen den Birnen, von denen die Obstgärtner bemerken, daß gerade die Kerne der feinsten nicht aufgehen, aber die der Holzbirnen gern.
So fasse du meine Hand und laß uns nicht nur gut sein, sondern auch froh. Die Freude ist der Sommer, der die innern Früchte färbt und schmilzt. Die Blüte trägt und gibt nicht nur künftige Früchte, sondern auch gegenwärtigen Honigsaft, und man darf ihr diesen nehmen und schadet jenen nicht.
Auf demselben Menschen wachsen, wie auf dem Weinberg, oft vielerlei Weine: auf der Mittagsseite der herrlichste und auf der Nordseite einer, der nicht zu trinken ist.
Ein weiches Herz hängt, wie das weiche Obst, so tief herab, daß jeder es erreichen kann; die harten Früchte hängen höher.
Und an Stationstafel 34.
Ist das die berühmte Erde?
Ich könnte ein pläsantes Leben hier oben führen, wenn ich mich nicht den ganzen Tag über alles erboste, was ich mir denke und finde. […]
Ein Haß gegen alles Dasein kroch wie ein Fieberfrost an mir heran; ich sagte wieder: ich bin gewiß ein böser
Geist. […]
O Bruder Graul, kennst du auch den Ingrimm, wenn der Mensch sich vergeblich ein paar Sündfluten oder Jüngste Tage oder einen mäßigen
Schwefelpfuhl wünscht, und es wie ein fauler Hund mit anschauen muß, wie zahllose Blut- und Schweinsigel, Kirchenfalken und Staatsfalken – in allen Ländern, Departements und den drei
Zeit-Dimensionen – ungestraft saugen, stechen, stoßen und rupfen; – wie sie, gleich dem grünen Wasserfrosch, der die bewohnten Schneckenhäuser verdauet, Häuser und Länder verdauen; – wie sie (die
besagten Bestien) wie der Ochse des Phalaris (Wenn Sie sich den Tag nicht verderben wollen, lesen Sie nicht nach was der »Ochse des Phalaris« ist)
sogar den Schrei des Menschenschmerzes in das Brüllen einer wilden Tierstimme verkehren? – O könnte man nur eine Woche lang als ein hübsches volles Gewitter über die Menschenköpfe ziehen und
sie zuweilen berühren von oben herab, so wollt’ ich nicht klagen! […]
Aber so ist die ganze ungeweihte Erde. Man denkt sich nur immer die eigne Stadt als das Filial und das Wirtschaftsgebäude zu einer entfernten Sonnenstadt; könnte man aber durch alle Gassen auf der Kugel auf einmal hinunter- und hinaufsehen und so immer dieselbe Gemeinhut [Gemeinheit] der Alltäglichkeit auf beiden Kugelhälften finden: so würde man fragen: ist das die berühmte Erde?
Jean Paul »Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch«
Fürwahr, betrachte ich einfach nur Welt, so zieht auch mich das dort wohnende und dauernde Grauen unablässig tiefer, in einen Orkus, der nicht meine Heimat ist. Ich schließe den Blick. Welt rattert fern. Wie aber die Ohren? Wie mein Herz?
Weiter, vorbei am Dorf Reinersreuth, ein paar Häuser, ein verlassener Gasthof. Immer weiter … hier Stationstafel 35.
Die Welt von oben
Könntest du doch jetzt unter meinem Luftschiff mithängen. Du machtest gewiß die Sänftentüren meiner Luft-Hütte weit auf und hieltest die Arme ins kalte Ätherbad hinaus und das Auge ins düstere Blau – Himmel! du müßtest jetzt aufstampfen vor Lust darüber, wie das Luftschiff dahinsauset und zehn Winde hinterdrein und wie die Wolken an beiden Seiten als Marsch-Säulen und Nebel-Türme langsam wandeln und wie drunten hundert Berge, in eine Riesenschlange zusammengewachsen, mit dem Gifte ihrer Lavaströme und Lauwinen zornig zwischen den Ameisen-Kongressen der Menschen liegen – und wie man oben in der stillen heiligen Region nichts merkt, was drunten quäkt und schwillt.
Jean Paul »Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch«
Fast wie einem solchen Fisch im Wasser war mir gestern nachts in der Luft, […]. Welche lüftende Freiheitsluft gegen den Kerkerbrodem unten! Hier ein rauschendes Nachtluft-Meer, drunten ein morastiges Krebsloch! Ich machte die Sänftenfenster dem frischen Luftzug auf und blies vor Lust mit meinem Posthörnchen hinaus. Drunten auf meinem zurückgelassenen Meersboden stieg ein Dieb in eine Kirche ein – unweit davon stieg ein Mönch aus einem Kloster als Selbstdieb heraus – in den Wald liefen Wilddiebe – auf dem Felde Wächter gegen das diebische Wild – ferner Reisende – Sentimentalisten u. s. w. Was ging mich das tiefe Volk an? – Ich ging zu Bette.
Jean Paul »Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch«
Heute gehen auch wir nach oben, langsam bergauf, ins Waldsteingebirge – ein Naturschutzgebiet – und gelangen dabei tiefer in den Wald. Große, hohe, Buchen, deren Äste bis auf den Boden hängen. Ein kleiner Wasserlauf begleitet uns ein Stück des Weges.
Wir finden Stationstafel 36.
Buch des Lebens
Das Leben gleicht einem Buche. Toren durchblättern es flüchtig, der Weise liest es mit Bedacht, weil er weiß, daß er es nur einmal lesen kann.
Man muss sich nicht verdrießen lassen, daß man einen Lebensplan, ein Buch, eine gute Handlung, seine eigene Besserung nur halb ausführen kann – alles auf Erden wird unterbrochen und nur Gott macht sein Ganzes.
Jean Paul an Emanuel Osmund, 21. August 1800
Der Schlag des Todes zerstäubt den ganzen Plunder von unseren Torheiten. Dies fällt mir oft so warm aufs Herz, daß ich nichts lernen möchte, als worauf ich in der anderen Welt aufbauen kann.
Jean Paul an Rektor Werner, 1781
Ohne Lächeln kommt der Mensch, ohne Lächeln geht er, drei fliegende Minuten war er froh.
Jean Paul »Die unsichtbare Loge«
Ein Mensch, der am Ende seines Lebens sich hinlegte auf sein Grab, und sagte: ich war immer froh, wäre eine Lobrede auf Gott.
Jean Paul »Die unsichtbare Loge«
Und dann sehen wir sie vor uns: lange, lange, lange Depressionswege. Kein steigendes Herz, nur sinkender Mut. So wollen sie einem traurige Leere ins Ohr flüstern. Aber da hielt ein tiefrosablühender Fingerhut am Wegesrand – hier in perfekter Dosierung – deutlich gegen und scheint schon gleich auf die nächste Stationstafel, Nummer 37, Jean Pauls passende Worte hingezaubert zu haben.
Rezept Heiterkeit und Freude
Heiterkeit oder Freudigkeit ist der Himmel, unter dem alles gedeiht, Gift ausgenommen. […]
Heiterkeit – der Gegensatz des Verdrusses und Trübsinns – ist zugleich Boden und Blume der Tugend und ihr Kranz. Denn Tiere können genießen, aber nur Menschen können heiter sein.
Jean Paul »Levana oder Erziehlehre«
Ich möchte einen ganzen Paragraphen bloß über und für die Heiterkeit und Scherzhaftigkeit der Mädchen schreiben und ihn den Müttern zueignen, da sie jene so verbieten. Denn etwa den Mädchen selber ernsthaft vorzuschlagen, sie möchten gelegentlich lachen, hieße fast ihnen den Gegenstand sogleich mitbringen. Hingegen Mütter murren gern (sollten sie auch oft innerlich lachen, wie umgekehrt die Töchter häufig nur äußerlich). Sie sind von der triumphierenden Kirche der Jungfrauen in die streitende der Frauen übergetreten – die wachsenden Pflichten haben den Ernst verdoppelt – der Bräutigam ist aus einem Honigkuckuck, der zur Süße der Honigwochen einlud, ein gesetzter Honig-Bär geworden, der den Honig selber haben will. –
Jean Paul »Levana oder Erziehlehre«
Was heiter und selig macht und erhält, ist bloß Tätigkeit.
Jean Paul »Levana oder Erziehlehre«
Jede innerliche Freude ist mehr heilsam als Arznei.
Fidel will schon Rast machen, wie er uns in seiner Sprache deutlich zeigt. Er legt sich einfach unter die Jean-Paul-Stationstafel und ruht sich aus, solange wir lesen. Und kaum haben wir das letzte Wort gelesen, steht er auf, schüttelt sich und läuft tapfer weiter. Ach Fidel, nur noch ein bisschen, bald kommt doch das »Waldsteinhaus«, die Einkehr, das Bier, die Klöße! Ich trage den Pudel ein bisschen, seine Beinchen sind doch so kurz.
Natürlich möchte ich auch sagen, dass breite, ebenmäßige Wege für gehbehinderte Menschen eine wichtige und oftmals einzige Möglichkeit des Naturgenusses bieten. Das darf ich bei all meinem Romantikgejammere nicht vergessen. Deshalb sei es hier ausdrücklich erwähnt.
Dann noch vorbei an Stationstafel 38.
Wander-Kasten
In der I. Kaste laufen die Jämmerlichsten, die es aus Eitelkeit und Mode tun und entweder ihr Gefühl oder ihre Kleidung oder ihren Gang zeigen wollen.
In der II. Kaste rennen die Gelehrten und die Fetten, um sich eine Motion zu machen, und weniger, um zu genießen, als zu verdauen, was sie schon genossen habe; in dieses passive unschuldige Fach sind auch die zu werfen, die es tun ohne Ursache und ohne Genuß, oder als Begleiter, oder aus einem tierischen Wohlbehagen am schönen Wetter.
Die III. Kaste nehmen diejenigen ein, in deren Kopfe die Augen des Landschaftmalers stehen, in deren Herz die großen Umrisse des Weltall dringen, und die der unermeßlichen Schönheitlinie nachblicken, welche mit Efeufasern um alle Wesen fließet und welche die Sonne und den Bluttropfen und die Erbse ründet und alle Blätter und Früchte zu Zirkeln ausschneidet. – O wie wenig solcher Augen ruhen auf den Gebirgen und auf der sinkenden Sonne und auf der sinkenden Blume!
Eine IV. bessere Kaste, dächte man, könnt’ es nach der dritten gar nicht geben: aber es gibt Menschen, die nicht bloß ein artistisches, sondern ein heiliges Auge auf die Schöpfung fallen lassen – die in diese blühende Welt die zweite verpflanzen und unter die Geschöpfe den Schöpfer – die unter dem Rauschen und Brausen des tausendzweigigen, dicht eingelaubten Lebensbaums niederknien und mit dem darin wehenden Genius reden wollen, da sie selber nur geregte Blätter daran sind – die den tiefen Tempel der Natur nicht als eine Villa voll Gemälde und Statuen, sondern als eine heilige Stätte der Andacht brauchen – kurz, die nicht bloß mit dem Auge, sondern auch mit dem Herzen spazieren gehen. …
Jean Paul »Die unsichtbare Loge«
Uns kommen immer mehr Wanderer entgegen – ein sicheres Zeichen, dass der Waldstein nicht mehr weit ist. Wenn ich bei dem warmen Wetter die anderen Wanderer in ihrem schweren Schuhwerk sehe, schmerzen mir die Füße. Allein schon das Gewicht der Schuhe, und die Blasen! Ich selbst trage ja nur Schlappen, in denen jeder Teil meines Fußes Platz hat. Komme prima zurecht.
So sage ich zu Peter: »Warum haben die immer so schweres Geschütz an ihren Füßen?«
»Weil sie zur Wanderkaste I gehören«, ist seine knappe Antwort und da taucht schon der Biergarten am Waldstein auf. Damit ist das Thema schnell wieder nach hinten gekippt, und überhaupt, der Aufstieg war eher leicht, für uns als absolute Amateure gut wanderbar.
Das Waldsteinhaus wird vom Fichtelgebirgsverein bewirtschaftet und wäre auch per Auto zu erreichen. Vom Biergarten aus fällt der Blick direkt auf die alte Waldsteinburg, oder das, was von ihr noch übrig blieb.
Wir setzen uns nach innen, Kloß mit Schäufele muss man in einer Stube genießen, so geht es jedenfalls mir. Fidel gebe ich noch etwas zu trinken, dann lege ich seine Hundedecke unter die Wirtshausbank, damit er weiß, jetzt ist eine Weile lang Zeit zum Schlafen. Und lull, schnarcht er auch schon. Wir spenden uns ein Bier, schreiben ein bisschen Tagebuch, Peter studiert die Wanderkarte, und ich lasse mich ins Wirtshausgemurmel fallen, um langsam im warmen Bad von Stimmen, Lachen, Quieksen, Stühlerücken und Tellerklappern zu versinken.
»Oh, schon so spät!«, schrecke ich plötzlich hoch. Wir wollen ja heute mit dem Bus zurück zu unserem Auto nach Sparneck. Hilfe, da ist ja die Zeit beschränkt! Kein Wirtshauströdeln, wir haben eine Deadline! »Mensch, ich muss ja noch rauf zu den Felsen und Fotos machen!«
Peter bleibt mit Fidel im Waldsteinhaus, während ich mich beeile. In einer Stunde müssen wir an der Bushaltestelle sein, und die ist an der Landstraße von Sparneck nach Weißenstadt. Das heißt, noch einen Kilometer bis dahin laufen. Auweia, ob das klappt?
Der Gipfel des Waldsteins an sich ist schon ein Erlebnis! Labyrinthische Gänge zwischen den Felsen, eingehauene Stufen, Familien mit Kind und Kegel turnen vor mir her, die Kinder plappern aufgeregt.
Ein Mädchen zum anderen: »Da kommen wir nur mit einer Räuberleiter hin.«
Die andere: »Dafür muss man aber immer zu zweit sein.« Und schon klettern sie in ihr nächstes Abenteuer.
Oben auf dem »Roten Schloss« – das ist eine Burgruine aus dem 14. Jahrhundert – angekommen, entdecke ich gegenüber in der Ferne einen Aussichtspavillon, oben auf einem flachen Stein thronend. Da muss ich auch noch hin, denke ich.
Der schöne Pavillon steht auf der »Schüssel«, einem wilden Turm von Felsen, die einer hier vor Urzeiten sorgfältig abgelegt zu haben scheint. Der oberste Granitblock ist schüsselförmig ausgewaschen. Auf ihn hat man den Pavillon gesetzt.
Der steile Aufstieg über Steinstufen und eine Holztreppe ist nicht ohne. Ich fürchte mich vor meiner Höhenangst. Die schlägt schon mal gewaltig zu. Was mach’ ich dann? Wie komme ich wieder runter? Familienhorden stürzen mir entgegen, ich warte in einer Treppennische, so eng ist es.
Der Vater ermahnt seine Jungs: »Langsam gehen, auf jeden Schritt achten!«
Einer der Jungs: »Und immer auf der Treppe bleiben mit den Füßen.«
Der andere Junge: »Unten dürfen wir aber wieder vorlaufen?«
Ich schaffe es echt bis nach oben und die Rundum-Aussicht ist gigantisch, obwohl ich so etwas immer schlecht genießen kann. Ich halte mich erst an der Mittelsäule des Pavillons fest, dann wage ich mich Schrittchen für Schrittchen doch nach vorne und schaffe, ohne durch den Sucher des Apparates zu gucken, sogar ein Foto: Die Welt von oben!
Bei klarer Sicht kann man hier seinen Blick weit schweifen lassen: über das Fichtelgebirge mit dem Weißenstädter See und Weißenstadt, dahinter sogar die Luisenburg, wenn man’s weiß, andere Gipfel des Fichtelgebirges, die Kösseine mit ihren 945 Metern und die Hohe Mätze. Allesamt weitere direkte oder nur gestreifte Etappenziele des Jean-Paul-Wegs.
Da kriege ich eine SMS von Peter: »Wo bleibst du denn, mach mir Sorgen!«
Ich antworte: »Ich komme!«
Peter: »Was mach ich mit dem Bier?«
Ich: »Saufen.«
Derweil steige ich schon hinunter, muss immer wieder auf den Stufen stehen bleiben, um die Nachrichten zu lesen. Stress.
Peter: »Der Bus!!!«
Ich: »Dann zahl und pack alles zusammen!«
Peter: »Hab ich schon.«
Ich: »Kommt raus, ich fotografier euch noch schnell dabei.«
Zurück am Gasthaus – von Peter weit und breit keine Spur. Ich gehe hinein, finde ihn – und da: der erste Streit! Wir werden lauter, sind im Bus-Stress, die Bedienung sagt im Vorbeigehen gütig lächelnd: »Nicht schimpfen …«
Peter macht dann eine Bemerkung, die mich auf die Palme bringt: »Aber der Hubschrauber kommt auch nicht.«
Mittelstarke Witze im Stress kann ich gar nicht leiden.
Draußen im Schilderwald finden wir zu allem Übel auch den Weg nicht. Wo geht es denn jetzt zur Bushaltestelle? Karte raus. Die weiß es genauso wenig. Wertvolle Zeit verrinnt. Wenn wir den Bus nicht kriegen, dann müssen wir zu Fuß nach Sparneck zurücklaufen oder wir investieren 30 Euro für ein Taxi. Nur – das Taxi-Geld haben wir schon im Waldsteinhaus in Bier und Schäufele umgesetzt. Shitty, shitty, shitty Shit!
»So, wir gehen jetzt da lang!«, bestimme ich, und Peter folgt mir einfach nach. Er hat den Glauben an Wanderkarten verloren. Aber siehe da, es ist der richtige Weg, und die Bushaltestelle ist näher als gedacht. Trotzdem beeilen wir uns lieber.
Dann melden unsere Körper, dass der Verstoffwechselungsprozess des Bieres beendet wurde. Noch im Wald, aber schon das Ziel »Bushaltestelle« im Visier – falls der Bus doch früher kommen sollte – erlösen wir uns nur einen Schritt seitlich des Weges.
Und was passieren muss, passiert natürlich: Da donnert nicht nur ein Mountainbiker in Höllenfahrt vorbei, sondern eine ganze Gruppe, einschließlich obligatorischem Nachzügler. Ich, noch in der Hocke … der Nachzügler guckt verdattert, wir auch. In Bruchteilen von Sekunden stelle ich mir vor, wie der Guckreflex des Bikers ihm jetzt zum Verhängnis werden und er im hohen Bogen ins Gebüsch fliegen könnte und muss so lachen … da kommt noch einer … meine Hose hängt immer noch auf den Knien … und noch einer … Jeglicher Streit, der unserer Meinung nach wieder völlig sinnlos war und eher unseren explosiven Temperamenten zuzuschreiben ist, verpufft augenblicklich.
Wir haben noch zehn Minuten Zeit bis der Bus kommt. Den wollen wir unbedingt fotografieren, denn es ist einer der Busse mit Fahrradanhänger, die hier an Saisontagen shutteln. Wir sind die einzigen Fahrgäste.
Busfahren ist so schön und viele Busfahrer so nett! Mit diesem halten wir ein Schwätzchen. Er hat gesehen, wie wir seinen Bus fotografiert haben, und er fragt, ob er auch ein Foto haben kann. Während der Fahrt diktiert er uns seine Adresse. Es wird uns eine Ehre sein, Herr Seifert!
In Sparneck steigen wir in unser Auto und zuckeln nach Hause, in unsere Ferienwohnung. Endlich fotografieren wir den Storch, dem wir jeden Abend auf der Heimfahrt begegnen.
Heute gibt es nur noch Salat, und Fidel will definitiv kein Pfotenbad mehr. Das muss ich wegen seiner Allergie alle zwei Tage an ihm vornehmen. Aber gut, heute lasse ich ihn in Ruhe. Auf seinem Sessel schläft er fest. Und wir bald auch.
In unseren Träumen fliegen wir jetzt frei von Höhenangst im jeanpaulschen Luftschiff durch das Nachtluft-Meer und erfahren so die Welt aus inneren ungeahnten Perspektiven, kaleidoskopisch unermüdlich glitzernd, tiefschief doppeldeutig schillernd, um sich dann im ersten Morgennebel wieder selbst zu diffusieren. Als wolle die Ferne uns vor allem Schrecken bewahren.
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