Schwarzenbach a. d. Saale – Sparneck
Den kompletten Verlauf des Jean-Paul-Wegs finden Sie hier: Literaturportal Bayern
Freitag, 10. August 2012. Nach der Stadtetappe in Schwarzenbach wandern wir weiter bis nach Sparneck. Endlich wieder Grün, Felder, Bäume und Fidel von der Leine. Es geht leicht bergan, das Wetter ist schön, Wolken brechen auf, die Sonne scheint, aber nicht zu heiß. Wir haben noch viele Kilometer vor uns. Und wenn man wie wir, alle Stationstafeln lesen und dokumentieren will, geht es mit dem Wandern langsamer. In der Ferne sieht man jetzt den Förmitzsee glitzern. Leider führt der Weg nicht direkt an ihm vorbei.
Bei Baumersreuth, einem kleinen Ort mit ein paar Häusern, sehen wir Stationstafel 24. Aha, jetzt gibt es wieder die »ordnungsgemäße« Zählung vom Joditzer Startpunkt aus.
Wettervorhersage
Gleichwohl schickte ich im Marktflecken Schwarzenbach, wo wir pernoktierten (übernachteten), einige Primaner herum, die sich überall erkundigen mußten, ob im Flecken kein Insaß oder Fremder wohnhaft wäre, der ein lahmes elendes Bein hätte, woran er spürte, obs fortregnete oder nicht. Denn Hühneraugen sind gleichsam Fühlhörner und erfrorne Fußzehen die Zeigefinger künftigen Wetters. Dem ganzen Ort aber gebrach es an einem solchen weissagenden Fuß. Ich wäre vermutlich gar umgekehret, wenn mir nicht Mr. Fechser eröffnet hätte, wir könnten seinem vom Fichtelberg zurückmüssenden Herrn Pflegevater entgegengehen, der mehr vom Wetter voraussage als ein Sturmvogel: in Hoffnung eines meteorologischen Responsums beschloß ich den Fortsatz der Schulreise.
[…]
Nachmittags kam endlich der sehnlich erlauerte Herr Pflegevater des Monsieur Fechsers vom Fichtelberg herab und konnte mir sagen, ob ich hinauf könnte, Wetters halber. Er hielt anfangs an sich, und dieser gelehrte Herr äußerte sich zuletzt (viel zu bescheiden) nur dahin: »Er sei wider Willen ein (Wetter-) Prophet in seinem Vaterlande; er könne weissagen, aber mehr auf ganze Quatember voraus als auf den nächsten Tag, so wie die vier großen Propheten leichter eine fremde, erst in Jahrhunderten einfallende Hinrichtung erblickten als ihre eigne, die sich noch bei ihren Lebzeiten begab, oder so wie (eigne Ausdrücke dieses Gelehrten) der Mensch richtiger den Weg der Vorsehung auf Jahrtausende als auf Jahrzehnte voraussagt. Überdies; da wir (nach Kant) der Natur die Gesetze geben: so sei ihm wie dem Moralisten mehr daran gelegen, zu bestimmen, wie das Wetter (nach den einfachsten Prinzipien) sein sollte, als wie es wirklich sei, und er habe wohl nicht die Schuld, wenn es die besten Regeln übertrete, die er feststelle« – Indessen verhielt mirs dieser meteorologische Augur doch nicht, daß es jetzt sich aufhelle. Auch trafs bis auf die kleinste Wolke ein: es will etwas sagen.
Jean Paul »Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg«
Was hier im Ausschnitt aus »Des Rektors Florian Fälbels … Reise nach dem Fichtelberg« wie eine nette Geschichte übers Wetter daherkommt, ist in Wirklichkeit als Gesamtwerk eine harte Kritik an den Lehrkörpern der damaligen Zeit. Zudem hat man zwischen den beiden Abschnitten – anders als bei meiner Darstellung – nicht gekennzeichnet, dass eine längere Textpassage ausgelassen wurde. In diesem fehlenden Teil schildert Jean Paul jedoch etwas Tragisches, nämlich wie Rektor Fälbel mit seiner Schulklasse der Exekution eines Deserteurs beiwohnt, und Fälbel die ganze Angelegenheit mit Scherzen kommentiert.
Ich weiß, ich entferne mich in dieser Etappe so ziemlich vom Tagebuch unserer Wanderschaft, aber was soll’s – wir sind auf dem Jean-Paul-Weg, also beschäftige ich mich auch mit den Texten der Stationstafeln und natürlich mit dem Menschen Jean Paul und seinem Werk, so gut ich es als Laie vermag.
Das Unerträgliche des Rektors Fälbel
Die Geschichte des Rektors Fälbel wird mir immer wichtiger. Hier handelt es sich zwar um eine weitere Schulmeistergeschichte, diese hat jedoch wahrlich nichts mehr mit den Idyllen des Schulmeisterlein Wutz zu tun.
Aus »Fälbel«: … »Als wir in Marktleuthen eintrafen, wußt’ ich im Finstern, daß die Brücke, worüber wir gingen, auf sechs Bogen liegen mußte nach Büsching; es freuet aber ungemein, gedruckte Sachen nachher als wirkliche vor sich zu sehen. Wir schliefen in einem anständigen Wirtshaus bis um neun Uhr auf dem Stroh, weil der Regen auf den Dächern forttrommelte, bis uns ein anderes Trommeln aufstörte. Es sollte nämlich ein Hungar erschossen werden, der von seinem nach den schismatischen Niederlanden gehenden Regimente mehrere Male deserteuret war. Als ich und mein Kollegium hinauskamen, war schon ein Kreis oder ein Stachelgürtel aus Säbeln um den Inquisiten geschlossen. Ich machte gegen einen vornehmen Offizier die scherzhafte Bemerkung, der Kerl ziehe aus der Festung seines Lebens, die man jetzt erobere, ganz ehrenhaft ab, nämlich mit klingendem Spiel, brennender Lunte und einer Kugel im Munde, wenn man ihn anders dahin treffe. Darauf hielt der Malefikant in lateinischer Sprache an: man möchte ihm verstatten, einige Kleidungsstücke, eh’ er angefasset und ausgezogen würde, selber herunterzutun, weil er sie gern der alten Waschfrau beim Regimente an Zahlungsstatt für Wäscherlohn vermachen wollte. Ich bekenn’ es, einen Mann, der für klassischen Purismus ist, kränken Donatschnitzer, die er nicht korrigieren darf, auf eine eigne Art; so daß ich, als der Delinquent sein militärisches Testament im schnitzerhaftesten Hungarlateine verfertigte, aufgebracht zu meiner Prima sagte: ›schon für sein Kauderwelsch verdient er das Arkebusieren (Erschießen); auf syntaxin figuratam und Idiotismen dring’ ich nicht einmal, aber die Felonien gegen den Priszian muß jeder vermeiden.‹ Gleich darauf warfen ihn drei Kugeln nieder, deren ich mich gleichsam als Saatkörner des Unterrichts oder als Zwirnsterne bediente, um eine und die andere archäologische Bemerkung über die alten Kriegsstrafen daran zu knüpfen und aufzuwickeln. Ich zerstreuete damit glücklich jenes Mitleiden mit dem Malefikanten (Missetäter), gegen das sich schon die Stoiker (gleichgültige Ruhebewahrer – aus der stoischen Ethik) so deutlich erklärten und das ich nur dem schwächern Geschlechte zugute halte; daher wird es der Billige mit dem Augen-Tauwetter (Tränen) meiner Tochter wegen des Inkulpaten (Beschuldigten) nicht so genau nehmen.« – …
Aus »Jean Paul« von Walther Harich: … Natürlich ist die ganze Tour ohne sachgemäße Vorbereitung unternommen worden und muß im entscheidenden Moment abgebrochen werden. Das Reisegeld reicht nicht. Fälbel läßt seine Tochter Kordula bei dem Thiersheimer Wirt zum Pfande und tritt mit seinen Primanern den Rückweg an.
Über den Rahmen einer bloßen Humoreske ragen die üblen Charaktereigenschaften des Rektors hinaus. Nicht als Stilwidrigkeit, denn sie verdeutlichen das satirische Porträt durch lebendige Züge. Fälbel ist nicht allein borniert, pedantisch, geizig, er ist herzlos und von einer unbewussten, aber deshalb nicht weniger empörenden Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Leid. Das tritt schon in seinem Verhältnis zu Kordula zutage, die er wie ein Küchensudel behandelt und ausnutzt, einer adligen Familie zur schrankenlosen Ausbeutung überlassen will, und die er einfach als Pfand bei einem fremden Gastwirt daläßt. Noch viel krasser tritt sein Mangel an Mitgefühl bei der Erschießung eines armen ungarischen Deserteurs hervor, vor dessen qualvoller Todesangst er mit seinen Primanern Sprechübungen im Lateinischen veranstaltet. Vor den Machtmitteln des Staates knickt der eingebildete Pedant in heuchlerischer Anerkennung zusammen. Mit der lateinischen Syntax zerstreut er »glücklich jedes Mitleiden mit dem Malefikanten, gegen das sich schon die Stoiker so deutlich erklären, und das ich nur dem schwächeren Geschlechte zugutehalte; daher wird es der Billige mit dem Augentauwetter meiner Tochter wegen des Inkulpaten nicht so genau nehmen.« An diesen Stellen ergreift dann Jean Paul selbst das Wort, um Kordulas und aller niedergedrückten Töchter und Frauen Partei zu nehmen. »Ihr Vater ließ, wie die meisten Schulleute,« schreibt er von der Tochter des Gymnasiarchen, »durch die Römer verwöhnt, nichts einer Frau zu, als daß der Körper ein Koch wurde und die Seele eine Köchin.« »Oh, es ist mir jetzt, als säh’ und hört’ ich in alle eure Häuser hinein, wo ihr, Väter und Ehemänner mit vierschrötigem Herzen und dickstämmiger Seele, beherrschet, abhärtet und einquetschet die Seele, die euch lieben will und hassen soll . . . o ihr milden, weichen, unter schweren, finstern Schnee gebückten Blumen, was will ich euch wünschen, als daß der Gram, eh ihr mit besudelten, entfärbten, zerdrückten Blättern verweset, euch mit den Knospen umbeuge und abbreche für den Frühling einer anderen Erde? – Und ihr seid schuld, daß ich mich nicht so freuen kann, wenn ich zuweilen eine zartfühlende, unter einer ewigen Sonne blühende Schwester von euch finde, eine hauchende Blume im Wonnemond: denn ich muß denken an diejenigen von euch, deren ödes Leben eine in einer düsteren Obstkammer durchfrorene Dezembernacht ist.« Was nicht in den Rahmen dieser engen Charakterstudie einging, das tat sich hier als Programm des Autors, als Schrei aus dem Werk heraus kund. Es war das alle Werke Jean Pauls beherrschende Thema: sein Mitleid mit der von den Wirtschaftsansprüchen des Lebens und gefühlloser Männer niedergebeugten Frauenseele. Und ebenso aus dem Werk heraustretend nahm er sich des armen füsilierten Deserteurs an, dessen rührende Geschichte er in einer Einschaltung gibt. Hier lässt seine Form noch die Sicherheit ihrer kalten Beherrschung vermissen, und doch freuen wir uns dieser die Form sprengenden Einschiebsel des enthusiastischen Jünglings, der mit rousseaugroßem Mitleid die Welt der Erniedrigten und Beleidigten umfaßt und für sie predigt, wenn ihr Schicksal nicht ins künstlerisch gerundete Bild zu fassen geht. …
De Bruyn schreibt dazu: … »Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelgebirge«, in dem ein Typ von Lehrer vorgeführt wird, wie ihn die deutsch-preußische Schulgeschichte noch bis in unser Jahrhundert hinein hervorgebracht hat. Pedanterie und Gelehrtenhochmut mischen sich in ihm mit Knauserei und Intoleranz, reaktionäre Gesinnung mit Lebensfremdheit, Feigheit und Brutalität. Die französischen Revolutionäre möchte Fälbel behandelt sehen wie die aufständischen Sklaven von den Römern, mit »Kreuztod, Deportation, Vorschmeißen vor die Tiere«. Die Hinrichtung eines Deserteurs, der sich nicht zu Kriegsdiensten ins Ausland schleppen lassen will, begleitet er mit Scherzreden, um bei seinen Schülern kein Mitleid aufkommen zu lassen, das höchstens Frauen erlaubt ist, die er sowieso verachtet …
Weiter bei de Bruyn: … Auch diesen Schulmeister (dessen lebendes Vorbild, Rektor Helfrecht in Hof, der sich übrigens fast 20 Jahre später mit einer Schmähschrift auf Jean Paul rächte) muss man vor Augen haben, wenn man sich dem vergnügten, dem Wutz, zuwendet, …
Die Schmähschrift von Helfrecht ist nachzulesen in: »Shakal, der schöne Geist: – Ein zeitgenössisches Pasquill auf Jean Paul«. Interessant und amüsant ist auch die Rezension des »Shakal« in der Erlanger Literaturzeitung vom Dezember 1799 – für Interessierte ist sie im Internet zu finden.
Immer wieder ergreift Jean Paul im »Fälbel« selbst das Wort. Und wir staunen. Und an einer Stelle gar, haben wir das Gefühl, wir wandern heute mit den gleichen Gefühlen durch die Landschaft wie er: … Alle diese dunkeln Phantasien kommen mir wieder, wenn ich draußen gehe und höre: hier haben sie den erschossen, dort jene Schlacht geliefert; und es ist ein Glück, daß die Zeit die Gräberhaufen der Erde abträgt und die Kirchhöfe der Schlachtfelder eindrückt und unter Blumen versenkt; weil wir sonst alle von unsern Spaziergängen mit einer Brust voll Seufzer zurückkämen. …
Jetzt geht es Richtung Völkenreuth. Dort soll es ein Wirtshaus geben – das brauchen wir jetzt auch. Aber der Weg macht es uns heute schwer: Plötzlich endet er in einer Straßenbaustelle. Kein
Mensch weit und breit, die Straße ist gesperrt. Dann endlich finden wir auf einem Straßenschild einen kleinen, grünen Aufkleber des Jean-Paul-Wegs. Dummerweise wurde das Schild bei
den Bauarbeiten herausgerissen und in den Straßengraben geworfen. Wo es ursprünglich stand, lässt sich nicht mehr feststellen. So bleibt unklar, wo der Jean-Paul-Weg weitergeht.
Wir kehren um und laufen die Straße zurück. Wohin sie führt, bleibt auch ungewiss. Schließlich biegen wir rechts auf einen Waldweg ab, der jedoch bald im Dickicht endet. Wir kehren erneut um. Weiter unten geht ein Weg links ab. Den nehmen wir jetzt einfach – egal. Wir werden Jean Paul schon wiederfinden.
Die dauernd lauernde Unerträglichkeit am Wegesrand
Ein schwerer Traktor donnert an uns vorbei, und wir springen in den Acker. Wir spüren schon, was jetzt kommt: Wieder am Ortsrand gelegen, kündigt sich ein »Gewaltgehöft« an. Riesige Hallen, Silagen, Mastställe, Schrott und Gestank. Und es ist mittlerweile keine Behauptung mehr: Auch der Fahrstil der Landwirte ist brutal und rücksichtslos.
Wir finden wieder Jean-Paul-Wegweiser: Der Weg war also richtig. Jetzt sind wir mitten in Völkenreuth. Auch hier wird an der Straße gebaut und deshalb wurde Stationstafel 25 hier auch herausgerissen und auch einfach ins Gebüsch geworfen. Um sie lesen zu können, müssen wir sie mit vereinten Kräften erst mühsam herausziehen.
Stationstafel 25 in Völkenreuth.
Lob der Schlachtschüssel
Das Achilles-Schild des Kuchens, den ein erhobnes Bildwerk von braunen Schuppen auszackte, ging im Quintus als ein Schwungrad hungriger und dankbarer Ideen um: er hatte von jener Philosophie, die das Essen verachtet, und von jener großen Welt, die es verschleudert, nicht so viel bei sich, als zur Undankbarkeit der Weltweisen und Weltleute gehört, sondern er konnte sich für eine Schlachtschüssel, für ein Linsengericht gar nicht satt bedanken.
Unschuldig und zufrieden beging jetzt die viersitzige Tischgenossenschaft – denn der Hund kann mit seinem Couvert nicht ausgelassen werden – das Fest der süßen Brote, das Dankfest gegen Thienette (Ehefrau von Quintus Fixlein), das Laubhüttenfest im Garten. Man sollte sich freilich wundern, wie ein Mensch mit einigem Vergnügen essen könne, ohne wie der König in Frankreich 448 Menschen (161 garçons de la Maison-bouche zähl’ ich gar nicht) in der Küche, ohne eine Fruiterie von 31 Kerls, oder eine Mundbäckerei von Ditos und ohne den täglichen Aufwand von 387 Livres 21 Sous zu haben. Inzwischen ist mir eine kochende Mutter so lieb wie ein ganzer mich mehr fressender als fütternder Hofstaat.
Jean Paul »Leben des Quintus Fixlein«
Dagegen die »Allgeborgenheit des Lebens« (Walther Harich)
Gott sei Dank gibt es an dieser Stelle diese Stationstafel. Welch’ eine Lebensfreude und Lebenslust. Da kann man sich nur anschließen. Ja! Bratkartoffel, Grünkohl, Klöße, Himmel und Erde, Schnippelbohnen, Dörrbohnen, Saubohnen, Fritten mit Senf, saarländischer Schnittlauchsalat mit Eiern, Peters Gansbraten – dazu Bockbier vom »Becher« (Brauerei Becher in Bayreuth). Dafür haben wir gelebt. Das stellt alle angeblichen »Must-haves« in den Schatten.
Jean Paul hat »Quintus Fixlein« (Quintus bedeutet »fünfter Lehrer an der Schule«) geschrieben, um etwas Schönes zum Lesen zu bieten, etwas nur Schönes, weil man sonst das Leben kaum mehr ertragen könnte. Das muss man lesen. Und es ist einfach zu lesen.
Aus »Jean Paul« von Walther Harich: … Nicht nur in die persönliche Kindheit des Dichters wird der Blick eröffnet, es taut vor unsern Augen etwas wie die unberührte Kindheit einer ganzen Landschaft auf. »Dasein« erschließt sich uns, unbelastet von menschlicher Gier und Hast. Wenn im Wutz ein einzelnes Menschenleben in seiner Allgeborgenheit gezeigt wird, so tut sich hier die Allgeborgenheit des Lebens überhaupt vor uns auf. …
Wir müssen jetzt nur die Straße überqueren, da fallen wir auch fast schon in den herrlichen Biergarten des »Völkenreuther Wirtshauses« hinein. Die »Biertische« sind hier aus verschiedenen Gartenmöbeln kunterbunt zusammengestellt, in kleinen Gruppen an lauschigen Plätzen. Eigentlich ist noch geschlossen, aber die Wirtsleute sind so freundlich, dass sie uns »selbstverständlich!« mit Bier versorgen.
Da wir die einzigen Gäste sind, kommen wir ins Parlieren. Sie erkennen, dass wir Wanderer sind. Das scheint sie zu freuen. Wir fragen sie, warum.
»Ja, was meinen Sie? Wenn da Radfahrer kommen, dann muss des alles flott gehen, die ham ja keine Zeit. Glaubens, die können noch net amal das Rad draußen stehen lassen, die Räder sind ja so teuer, die müssen die bei sich haben. Dann klappern die mit den Radln zwischen die Tisch! Und schnell muss des gehen mit dem Bier! Und die sagn net ›Grüß Gott‹, sondern die wolln immer nur Kissen ham, weil denen der Arsch wehtut. Ich sags Ihnen!«
Peter und ich lachen. Der »Können-Sie-des-noch-mal-machn«-Kommentar unseres Vermieters blitzt zwischen unsere Gedanken.
»Und wo wandern Sie da?«, will sie dann wissen.
»Wir gehen den Jean-Paul-Weg. Heute noch bis Sparneck«, antwortet Peter.
»Ah, da gibt es doch den Weg in Schwarzenbach?«, kommentiert sie.
»Ja, ja, und den 200 Kilometer langen von Joditz bis fast zu uns nach Hause, hinter Bayreuth.«
»Ach ja, stimmt. Da is doch auch nächstes Jahr überall was los?«
»Ja, der 250. Geburtstag.«
»Des is ja irgendwie alles a Armutszeugnis, sag ich Ihnen. Die fragn uns immer, ob wir da was machen. Wir solln uns was einfallen lassen. Wissens, wenn man was macht, dann hört man nie wieder was von denen.«
»Ja, ja«, nicken wir, »es ist doch überall zu viel los, man weiß ja gar nicht mehr, was man machen soll. Manchmal ist es einfach zu viel«, sage ich.
»Tja, macht man aber nix, is man ratzfatz weg vom Fenster, so heißts jedenfalls. Also, wenns noch a Bier wollen, sagens nur Bescheid.«
Und weg sind sie, die Wirtsleute Anni und Roland Heinold. Die beiden werkeln weiter an ihrem Haus. Hier scheint man immer etwas zu tun zu haben. Peter geht sich noch ein zweites Bier holen. Auf meinen leeren Magen kann ich nicht so viel trinken. Und da die Küche noch geschlossen ist, müssen wir hungrig weiterlaufen.
Dann lassen uns die Heinolds hinten zum Gartentürchen hinaus. Sie vermuten, dass der Weg dort weiterführt, denn da geht es gleich nach Hallerstein, unserem nächsten Ziel. Direkt hinter dem Wirtshaus ist eine Pferdekoppel. Zwei neugierige Pferde recken ihre Hälse über den Zaun – uns zur Überraschung und zur Freude.
»Oh, seid ihr aber schön!«, sage ich, streichle sie und ahne noch nicht, dass sie die perfekte Ouverture zu dem sind, was jetzt kommt.
Es geht weiter Richtung Hallerstein, leicht bergan. Es lohnt sich, immer wieder einen Blick zurückzuwerfen, und da sieht man in der Ferne den Silberspiegel des Förmitzsees ruhen, und das Dörfchen Völkenreuth macht danebenliegend gerade ein Nickerchen, so scheint es.
Erreicht man die Anhöhe, so stößt man auf eine ähnliche Stationstafel, wie die des Jean-Paul-Weges: weiße Schrift auf grünem Grund. Die Stationstafel trägt die Nummer 12 und den Titel »An der Windmühle«. Es wird erzählt, dass im Jahr 1800 der Sommer so trocken war, dass aus Wassermangel die Wassermühlen zum Stillstand kamen, und deshalb hier – an dieser erhobenen Diabaskuppe (Diabas: eine Gesteinsart, auch Grünstein genannt) in der Hallersteiner Flur – eine Windmühle errichtet wurde.
Wir sind also auf den Hallersteiner Rundweg, dem Wanderweg »Historisches Hallerstein«, gestoßen.
Wir merken es jetzt schon: dieses Hallerstein ist anders als so manches Dorf, durch das wir gewandert sind.
Hinter der Kuppe blitzt die Turmspitze der Dorfkirche zwischen Baumkronen hervor, und links neben dem Weg grasen Rinder auf einer Weide. Ein so seltenes Bild. Wir bleiben stehen, lassen das Geräusch weidender Kühe in unseren Ohren klingen, wie im regelmäßigen Takt die Kuh erst Gras und Kräuter beriecht, prüft, durch die Nüstern schnaubt, dann die Zunge das inspizierte Grasbüschel umschlingt und es abreißt, zwei, drei mahlende Kieferbewegungen, dann wieder riechen, schnauben, abreißen, kauen, während der Schwanz rechts und links auf den Tierrücken peitscht, um die Fliegen zu vertreiben. Dann die Unterbrechung des Fressvorgangs, neugieriges Aufblicken, Abwarten, Schauen. Wenn man nicht weggeht, kommt irgendwann die erste Kuh auf einen zu, und dann folgen die anderen.
Als Kinder hätten wir dann vor dem Zaun ein paar Grasbüschel abgezupft und den Kühen zum Fressen angeboten, aber die Hände schnell weggezogen, damit sie einen nicht beißen konnten, und dann hatte uns doch ihr Maul berührt, und wir haben uns über den Schleim mit leichtem Schauer gegruselt und laut »iiihhhh!« gequietscht. Wir sind über Stacheldrahtzäune geklettert, haben die Röcke zerrissen, sind querfeldein über Weiden gelaufen und in Kuhfladen getreten.
Was ist das nur für ein Dorf, das uns mit Kühen auf der Weide begrüßt?
Himmelreich Hallerstein
Und dann streifen uns fröhliche Bauerngärten rechts und links, Buschbohnen, Stangenbohnen, Ringelblumen, Sonnenblumen, gackernde Hühner und hinten ein paar Gänse, freilaufend an einem kleinen Teich. Die Bauernhäuser sind klein und hutzelig, keine Zäune, stattdessen einen Kirchplatz und einen Bäckerladen.
Ich trau’ mich kaum, es zu aufzuschreiben: Das ist jeanpaulisch, Dorfglück, hukelumig; da: Die Schule ist aus und giggelnde Kinder laufen nach Hause, es riecht nach Rauch und frisch gebackenem Brot.
Jetzt stoßen wir auf die Hallersteiner Informationsstätte für regionale Geologie und Steinbearbeitung »SteinReich Hallerstein«. Auf einer Wiese findet man verschiedene Steinblöcke mit Erklärungstafeln. Langsam beginnt man zu begreifen, was diese Region prägt. Es ist der Stein. Und die Bearbeitung von Stein ist ein hartes Brot, zehrt den menschlichen Körper aus, frisst sich in die Lunge. Hier ging es den Menschen um das nackte Ringen mit Materie.
Weil ich es nicht besser beschreiben kann, zitiere ich, was der Heimat- und Kulturverein Hallerstein e. V. auf seiner Webseite über »SteinReich Hallerstein« schreibt: … Wer in Hallerstein schon einmal Pickel und Schaufel zur Hand nahm, und sei es nur, um ein Pflanzloch für einen Baum auszuheben, der weiß ein Lied davon zu singen, dass unser Heimatort den zweiten Teil seines Namens nicht zu Unrecht trägt.
Sei es nun der schiefrige »Kipper« oder der glasharte, hell klingende »Blaue«, alle können einem das Leben schwer machen, wovon so manche Blutblase an den Händen kündet. In unserer Zeit, in der Bagger und Laderaupe der körperlichen Qual weitestgehend ein Ende gemacht haben, leiden nur noch die Landwirte unter den Tonnen von Steinen, die sie alljährlich von den Feldern schleppen müssen, als wüchsen sie ständig nach; und so mancher Fluch wird immer noch ausgestoßen, wenn die teuren Schare des neuen Pfluges nach kurzer Zeit hoffnungslos verbogen der Arbeit ein unfreiwilliges Ende bereiten.
Diese immer wieder Ärger bereitenden Relikte der variskischen Gebirgsbildung waren dereinst aber auch Grundlage des Lebensunterhalts vieler Familien in der Region. Naturstein aus dem Fichtelgebirge ist in vielen repräsentativen Bauten deutscher Großstädte zu finden. Er war einst so beliebt, dass manche Gegenden (Epprechtstein) wie ein Schweizer Käse mit Steinbrüchen durchlöchert wurden, um das wertvolle Mineral zu gewinnen. In diesem Zusammenhang sei nur an den Weißenstädter Steinmetz Erhard Ackermann erinnert, der das Polieren des Granits erfand. König Ludwig I. gefielen dessen Erzeugnisse so gut, dass er sie tonnenweise in der Befreiungshalle in Kehlheim verbauen ließ.
Tausende Fichtelgebirgler fanden in der Steinindustrie einst Lohn und Brot, nahmen in der schlechten Jahreszeit kilometerlange Fußmärsche auf sich, um zu ihrem Steinbruch oder in die Schleiferei zu gelangen. Hunderte fanden einen frühen Tod durch Arbeitsunfälle und die kaum vermeidbare Berufskrankheit der Silikose (Steinstaublunge).
An ihre Kunstfertigkeit, und ihre Leiden, aber vor allem auch auf die Schönheit ihres Materials und ihrer Erzeugnisse möchte der Heimat- und Kulturverein Hallerstein e. V. mit dem Hallersteiner »Granitgarten« erinnern. …
Mir bleibt im Nachhinein ja kaum anderes übrig, als das Internet zu nutzen und zu hoffen, dort Informationen darüber zu finden, wo wir waren. Die Webseite von Hallerstein ist da ein wahrer Abenteuerroman: spannend, zum Lachen und zum Weinen. Nebst dem Thema »SteinReich« erfährt man, wie eine Dorfgemeinschaft seit 1986 darum kämpft, Handwerk, Historie, Kultur, Glauben und Musik, Kaltblüter am Göpeldrescher und Dampflokomobile, Schweiß und Blasen, Essen und Trinken, Bauen und wieder Abreißen, Stroh und Feuersbrunst, Ambosklingen und Pechbrennen, Zweifel und Offenheit, Kochen und Tanzen, Orgel und Junior Brass, Fiasko und Wetterorakel, Weißbiergärtlein und Räuberpistolen, Feiern und Scheitern in einem über alle Grenzen hinweg berühmt gewordenen, zweijährlichen Hallersteiner Handwerkerfest mit Tausenden von Menschen zu teilen.
1991 gab es nach der Grenzöffnung hier das erste gesamtdeutsche Handwerkerfest. Auf der Webseite heißt es: … Die Freiwillige Feuerwehr hatte zwischenzeitlich bei der FFW von Eich in Sachsen, eine Gemeinde in der Nähe der Stadt Treuen, neue Freunde gefunden, die mit ihren Darbietungen bei den künftigen Handwerkerfesten nicht mehr wegzudenken waren. 1991 hatten die dortigen Kameraden kurz entschlossen ihren altersschwachen Robur mit allerlei Utensilien aus ihren Altbeständen vollgepackt. Als sie am Sonntag – bekleidet in Uniformen von anno dazumal – mit ihrer alten Handdruckspritze eine Schauübung abhielten, blieb kein Auge trocken. Beifall und Gelächter bei den Zuschauern waren herzlicher Dank für ihren tollen Einsatz. …
Heuer gab es kein Fest. 2013 geht es weiter.
Und! Angefangen hat die ganze »Kulturkiste« die FFW Hallerstein – also die Feuerwehr! 1987 wurde dann der Heimat- und Kulturverein gegründet, der den ganzen Rest »verbrochen« hat. Es lohnt sich, die liebevoll verfasste und drehbuchreife kleine Chronik zu lesen!
Auf jeden Fall spürt man all das, wenn man durch dieses Dorf läuft. Holzzäune, steinerne Trinktröge, gemütliche Gässchen, bunte Bänke vor den Haustüren, freundliche Fensterläden – da hüpft einem das Wandererherz ganz hoch.
Und hier finden wir auch die am schönsten umrahmte Jean-Paul-Weg-Tafel:
Dieses Jahr ist ein Apfel-im-Überfluss-Jahr. Von überall leuchten einem die rotgebackten Paradiesfrüchte entgegen, von Bäumen und auf warmen Wiesen verstreutliegend, ein Gefühl von Reichsein, von Füllhorn, von satter Ernte und Lachen verströmend. Und weil das Dorf so viele schöne Holzzäune hat, muss ich neben einem stehen bleiben und in den Garten gucken. Ein alter Mann kommt aus dem Schupfen und pflückt einen Apfel vom Baum.
»Den schenk ich euch«, sagt er zu uns.
Wir plaudern ein bisschen.
»Ich hab Zeit«, sagt er immer wieder. »Wir sind ja nicht auf der Flucht. Das ist mein Spruch. Man muss doch Mensch bleiben.«
Ja, hier wohnt die Zeit. Hier ist sie zu Hause und geblieben.
Weiter führt der Weg über Wiesen aus dem Ort hinaus und steigt zum Waldrand hoch. Dort ist eine Bank – wieder mit herrlichem Ausblick auf den Förmitzsee. Wir machen Picknick. Heute haben wir glücklicherweise kaltes Hühnchen und Rotwein dabei.
Neben der Bank steht Stationstafel 26.
Theater des Lebens
Viertehalbtausend Fuß tief rannte die weite Erde – ich glaubte festzuschweben – unter mir dahin, und ihr breiter Teller lief mir entgegen, worauf sich Berge und Holzungen und Klöster, Marktschiffe und Türme und künstliche Ruinen und wahre von Römern und Raubadel, Straßen, Jägerhäuser, Pulvertürme, Rathäuser, Gebeinhäuser so wild und eng durcheinander herwarfen, daß ein vernünftiger Mann oben denken mußte, das seien nur umhergerollte Baumaterialien, die man erst zu einem schönen Park auseinanderziehe.
Auf der Fläche, die auf allen Seiten ins Unendliche hinausfloß, spielten alle verschiedenen Theater des Lebens mit aufgezogenen Vorhängen
zugleich – einer wird hier unter mir Landes verwiesen – drüben desertiert einer, und Glocken läuten herauf zum fürstlichen Empfang desselben – hier in den brennend-farbigen Wiesen wird gemähet –
dort werden die Feuersprützen probiert – englische Reuter ziehen mit goldenen Fahnen und Schabracken aus – Gräber in neun Dorfschaften werden gehauen – Weiber knien am Wege vor Kapellen – ein
Wagen mit weimarschen Komödianten kommt – viele Kammerwagen von Bräuten mit besoffnen Brautführern – Paradeplätze mit Parolen und Musiken – hinter dem Gebüsche ersäuft sich einer in einem tiefen
Perlenbach, nach dem dabei zusehenden Kniegalgen zu urteilen – lange Fähren mit vielen Wagen ziehen unten über breite Ströme und ich oben gleichfalls, aber ohne Fährgeld – ein Schieferdecker
besteigt den Stadtturm, und ein sentimentalischer Pfarrsohn guckt aus dem Schalloch, und beide können (das kann ich viertehalbtausend Fuß hoch observieren, weil die dünne Luft alles näher
heranhebt) sich nicht genug über das hundert Fuß tiefe Volk unter sich verwundern und erheben – […] – ein für die Kirmes angeputztes Dorf samt vielen nötigen Verkäufern und Käufern dazu –
katholische Wallfahrten, von schlechtem Gesang begleitet – ein lachender, trabender Wahnsinniger muß eingefangen werden – fünf Mädchen ringen entsetzlich die Hände, ich weiß nicht warum – über
hundert Windmühlen heben im Sturm die Arme auf – die blühende Erde glänzt, die Sonne brennt aus den Strömen zurück, die muntern Schmetterlinge unten sind nicht zu sehen und die hohen Lerchen nur
dünn zu hören, …
Jean Paul »Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch«
Giannozzo – oder besser gesagt Jean Paul – muss über Hallerstein geflogen sein, da sind wir uns sicher.
Reich gestärkt an Leib und Seele freuen wir uns auf den nächsten Abschnitt des Weges. Schon von der Bank aus können wir ihn sehen. Ein weicher Wurzelweg, tannennadelgepolstert, führt an einem Sportplatz vorbei, der zurzeit als Zeltplatz genutzt wird. Quasselnde Jugendliche, Zurufe, wilde Schreie, Holz wird herumgetragen, Federball gespielt. Es ist Sommer, und es sind Ferien, und wir wandern weiter über Wiesen, an Waldrändern vorbei, zur Stationstafel 27.
Seelig in der Natur
Man kann einen seeligen, seeligsten Tag haben, ohne etwas dazu zu gebrauchen als blauen Himmel und Frühlingserde.
Ich würde mehr vom Weltgeist lernen, wenn ich auf allen Bäumen dabei stehen und es sehen könnte, wie die verschiedenen Vögel ihre Nester bauen, als von allen Lesereien darüber.
O Genius, du machtest diese Erde so schön, warum nahmst du uns nicht die Sehnsucht nach einer besseren.
Auf der Welt ist alles natürlich, ausgenommen die Welt selber.
Dann ist es leider mit dem schönen Waldweg vorbei. Es folgen nun viele Kilometer »Waldwirtschaftsbretterweg« (»brettern« im Sinne von »rasen«), so nennen wir diese breiten Wege, die wie Autobahnen Wälder durchschneiden. Durch ihre starre Geradlinigkeit passen sie nicht in die Natur und wirken wie Fremdkörper. Deshalb verstören sie auch. Hier draußen im Wald erwartet man Formen, Farben und Gerüche, die organisch hineingelebt sind. Was wir hier sehen, ist Gewalt. Man spürt sie als Erholungssuchender, sie nagt unterschwellig an der Seele.
Wir kommen zum Waldrastplatz am Buchbrunnen. Hier ist Stationstafel 28.
Kind und Natur
Alles erste bleibt ewig im Kinde, die erste Farbe, die erste Musik, die erste Blume malen den Vordergrund eines Lebens aus.
So werde denn den schuldlosen Wesen, welche, und nicht sich, der erhabenste Mensch der Erde uns zu Mustern und nicht zu Schülern, sondern zu Lehrern vorgestellt, das sanfte Lenzgrün der Kindheit gelassen und begossen, das als Wintergrün des Alters wiederkommt.
Oft hat ein ländlicher Blumenstrauß, welcher uns als Kindern im Dorf ein Lustwald gewesen, in späten Mannjahren und in der Stadt durch seine alten Düfte unnennbare Zurückentzückungen in die göttliche Kindheit gegeben.
Freudigkeit, dieser Selbstgenuß der inneren Welt, öffnet das Kind dem eindringenden All, sie empfängt die Natur nicht lieb-, nicht wehrlos, sondern gerüstet und liebend und lässet alle jungen Kräfte wie Morgenstrahlen aufgehen und der Welt sich entgegen spielen.
Jean Paul »Levana – oder Erziehlehre«
Weiter Qualweg. Dann, nach unendlich lang erscheinenden 2 Kilometern, stoßen wir auf die 1. Tafel »Landschaft zu Jean Pauls Zeiten«.
Blick auf Benk
Der Lehrer von Jean Paul, Th. Helfrecht, hat das Fichtelgebirge beschrieben. Es lässt Einblicke zu, wie sich die Landschaft seit dieser Zeit verändert hat.
Zur Zeit Jean Pauls waren die Wälder wesentlich lichter, da sie mit Waldweide und höherer Holzentnahme stärker genutzt wurden. Der lichte Wald war aber auch Lebensraum für typische Tier- und Pflanzenarten des Fichtelgebirges, die heute stark in Bedrängnis sind.
»Wenn man Penk zurück gelegt hat, gelangt man zu einem weiten Anger mit kleinen Büschen bewachsen. (Diese können kein Wachstum haben, weil man Vieh darin hütet.)«
Die Waldweide war die Grundlage der Rinder- und Schafhaltung. Die Tiere wurden täglich zu den höchsten Gipfeln getrieben.
Es folgt Stationstafel 29.
Natur und Musik
Gefühl für die Natur heißt bei den meisten Gefühl für die silbernen Klappen der Flöte, nicht für ihre silbernen Töne.
Nur das einseitige Talent gibt wie eine Klaviersaite unter dem Hammerschlage einen Ton, aber das Genie gleicht einer Windharfen-Saite, eine und dieselbe spielet sich selber zu mannigfachem Tönen vor dem mannigfachen Anwehen.
Weibliche Tugend ist zwar Saitenmusik, die im Zimmer, männliche aber Blasmusik, die im Freien sich am besten ausnimmt.
Musik ist die einzige schöne Kunst, wo die Menschen und alle Tierklassen – Spinnen, Mäuse, Elefanten, Fische, Amphibien, Vögel – Gütergemeinschaft haben.
Endlich werden wir weg von diesem Qualweg auf einen schönen Pfad geführt Er ist eine Erlösung. Vorbei an jungen Fichten und Weidenröschen, von hohem Gras umsäumt, auf dem die Tautropfen immer noch glitzern.
Pfade sind Wege für Wanderer und somit nur fußgeschwindigkeitstauglich. Wie entstehen sie eigentlich? Werden sie gemacht oder von Menschen ertrampelt? Wie alt sind sie? Könnte man von diesen nicht viel mehr anlegen? Sie wären doch viel kostengünstiger als Waldbretterwege oder Radwege. Was kostet ein Fuß-Pfad?
Wieder weiter auf einem anderen breiten Waldwirtschaftsweg. Es zieht sich hin. Stellenweise ist er mit grobem Schotter bedeckt, sodass ich um Fidels Pfoten fürchte. Ich trage ihn ein bisschen. Er hält immer noch durch– ich fasse es nicht. Was sage ich da? Durchhalten? Der Kleine spurtet trotz Erschöpfung immer wieder los, sobald der Weg freundlicher und weicher wird, mit Moos und sanftem Gras.
Gott sei Dank erreichen wir jetzt die Förmitzquelle. Ich lasse Fidel runter. Lange kann ich ihn nicht halten, mit seinen 7,5 Kilo. Ich atme auf.
Hier stehen ein paar Bänke. Wir machen eine längere Pause und lesen gemütlich Stationstafel 30.
Glücks-Minuten
Das Leben ist lang, aber die Zeit ist kurz, sie hat nichts als Augenblicke.
Jede Minute, Mensch, sei dir volles Leben.
Blosse Zeit ist Wasser in dem Wein.
So rollen seine Minuten auf lauter Glücksrädern über die 12 Tage.
Schiffe friedlich über deinen verdunstenden Tropfen Zeit.
Oh ja, das leise Plätschern der Quelle passt dazu. Zurücklehnen auf der Bank und zwischen den Zweigen hindurch in den Himmel schauen, ein wenig die Wangen reiben. Fidel schlabbert aus dem Rinnsal.
Peter schmerzen langsam die Knie und seine Fußsohlen brennen.
»Wie weit ist es noch bis Sparneck?« fragt er.
»Noch zwei Kilometer«, antworte ich und mache ihm Mut.
Über mich selbst kann ich mich nur wundern. Nichts tut mir weh, keine Knöchel, keine Fußsohlen, keine Gelenke, nichts. Dabei trage ich nur Schlappen an den Füßen, eine Art Clogs. Die sind mir überhaupt am liebsten, könnte ständig darin laufen. Die Zehen haben Platz und an der Ferse kann es keine Blasen geben.
Das Wetter ist immer noch ein Besser-gehts-nicht-Wetter. Sanfter Wind und wechselnde Bewölkung. Der Weg mündet nun in eine schmale Asphaltstraße. Armer Peter, das tut jetzt richtig weh. Aber die nächste Stationstafel müsste bald erreicht sein. Der Gedanke zieht und tröstet. Aber was noch viel mehr tröstet, ja wieder neue Energie spendet, ist, dass plötzlich am Horizont auch noch die Dächer von Sparneck auftauchen! Rettung naht! Vor lauter Freude hätten wir dann beinahe Stationstafel 31 übersehen, die sich links auf einer Wiese hinter Hecken versteckt. Dafür steht eine Bank zur Rast dabei. Wir plumpsen drauf und lassen uns von der untergehenden Sonne bescheinen. Auch Fidel spürt Peters Erleichterung und wälzt sich zur eigenen Entspannung im kühlen Gras. Was für eine Wohltat!
Ehe-Seufzer
Wem Gott ein Amt gibt, gibt er doch wenn nicht Verstand, so doch eine Frau.
Eine Frau hält den Liebhaber für besser als den Mann
1. weil sie diesen hat
2. weil jener idealistisch, dieser wirklich vorschwebt
3. weil jener gibt, dieser fordert, jener nimmt und dankt, dieser gibt und Dank fordert
4. weil sie jenen kürzer kennt
5. weil jener verspricht, dieser nur hielt
6. weil sie den Mann lieber haben würde, sobald sie der Liebhaber heiratete.
Dem Liebeanfänger mag vielleicht der Nachtfalter gefallen, aber ein Ehemann verlangt seine Tagpsyche, denn die Ehe erfordert Heiterkeit.
In bösen Augenblicken der Ehe rechnet der Mann immer die eignen Tugenden auf eine Summe zusammen; nun so rechne er auch die seiner Frau auf.
Die Ehe gehört für Engel, die Menschen sind dazu zu schwach.
Was soll man jetzt dazu sagen? Nichts mehr. Was uns völlig wundert, ist, dass wir bis jetzt noch nicht gestritten haben. Paare sollen sich auf solchen Wanderschaften häufig sogar trennen. Wir waren gewarnt. Jetzt seufzen wir vor Müdigkeit und Schmerzen. Peter muss noch durch seine »Vorstadthölle«, wie er die asphaltierten Vororte neuerdings nennt. Wir wollen bis zur Kirche, da ist die Stationstafel in Sparneck, da gibt es bestimmt auch eine Bank, da bestellen wir unser Taxi und ab da ist nur noch Feierabend.
Aber es »ziagt« sich in der »Vorstadthölle«. Leute am Zaun grüßen freundlich, sehen uns mit den Rucksäcken und dem immer heiteren Pudel. Peter versucht, auf keinen Fall zu humpeln! Wir schaffen einen Vorgarten nach dem anderen, jetzt die Hauptstraße, und da ist endlich die Kirche! Wieder plumps auf die Bank, Rucksack runter, Peter ruft das Taxi, es dauert fast noch eine Stunde bis es kommt, egal, Fidel schläft auf meinem Schoß und wir trinken den letzten Rotwein auf.
Die Stationstafel 32, »Taufpatenpolitik«, sparen wir uns für heute, die schaffen wir nicht mehr. Es steht etwas über Jean Pauls Bruder Gottlieb drauf, genauer gesagt über dessen Kinder und deren Taufpaten. Morgen starten wir ja in Sparneck, dann kommt sie dran.
Die Taxifahrerin entpuppt sich Fidel gegenüber als Hundefreundin. Sie sagt, sie habe auch einen Hund. Das Taxi ist eher schmuddelig, und ich finde das wunderbar. Ich mag solche Taxis, in denen alles noch herumliegt – wie hier: Strickzeug, Einkaufstüten, Sweatshirts, Zeitungen. Man erfährt viel. Die Fahrerin ist echt süß; sie quasselt wie eine Rheinländerin, frisch von der Leber weg und flugs sind wir schon wieder in Schwarzenbach bei unserem Auto. Die Fahrt kostet 30 Euro – was will man da machen. Ist etwas teuer, aber es gab auch keine Alternative. Egal. Wenn wir Taxi fahren müssen, gehen wir halt nicht essen. So kochen wir heute Abend noch Reste auf: Bratkartoffeln mit Spiegelei und Salat. Fidel frisst gut und schnarcht sofort weg. Peters Gesicht glüht, und meines auch.
»Papst-Bier« beruhigt Theater des Lebens famos
Vor dem Essen hat Peter noch mal die Flaschenbierhandlung der Schwägerin aufgesucht. Scheinbar hat sie schon auf Peter gewartet. Sie steht vor dem Bierkeller und erklärt ihren heutigen Erfolg: Ihr altes Haus hat einen neuen Anstrich bekommen – behagliches Schwedenrot mit weißen Fenstern. Früher beherbergte das Anwesen einmal eine Gastwirtschaft mit Tanzboden. Daneben stand ein weiterer Stadel mit einem übergroßen Holzbalkon. Sie zeigt ihm ein altes Foto. Ein Traum. Sie bedauert sehr, dass sie den Gasthof nicht mehr halten konnten. Die Wetterseite hatte sich um einen halben Meter abgesenkt, und im Winter war der Balkon eingebrochen. Dann gab es leider keine Chance mehr. Schade. Im Dorf leiden sie darunter, dass es kein Wirtshaus mehr gibt. Vor Kurzem hat auch noch das letzte zugemacht, an dem sich vorher schon viele Pächter versucht hatten. Aber die Region ist halt schwierig und die Winter hart.
Peter bringt mir heute zwei Flaschen »Papst-Benedikt-Bier« mit. Das Gebräu ist echt stark, mehr als acht Prozent, schmeckt aber schön süßlich, so wie ich es mag.
Wir gucken noch NDR Talkshow. Ein kleiner Junge, Felix Finkbeiner, erzählt stolz von seinem Naturschutzprojekt »Plant-for-the-Planet«. Und ich denke mir: Warum sagt keiner den Kindern, dass wir längst von den Milliardären der Food-Industrie überrollt werden? Diese Maschine ist so mächtig, da kommt nichts mehr gegen an. Aber vielleicht hilft das Projekt ja doch. Es gibt immer wieder Wunder. Wir drücken Felix die Daumen – ganz fest!
Nach dem »Welt-Theater« von Jean Paul frage ich mich: Was würde er heute für ein Szenario beschreiben, sähe er unsere Welt von oben? Wir wollen es nicht mehr wissen. Heute gibt es noch Franzbranntwein-Einreibungen, das »Papst-Bier« macht lullig müde, und so lullen wir drei glückselig ein.
Nachtrag vom 23. Mai.2018:
Felix Finkbeiner wurde das Bundesverdienstkreuz verliehen. Er ist der jüngste, der je diese Auszeichnung erhielt. Mehr als 15 Milliarden Bäume hat er schon gepflanzt. Ich bin sprachlos und zolle ihm meinen allergrößten Respekt!
Zum FAZ-Artikel
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