Joditz – Unterkotzau
Den kompletten Verlauf des Jean-Paul-Wegs finden Sie hier: Literaturportal Bayern
Das fängt ja heiter an
Dienstag, 7. August 2012. Peter brüllt im Bad. In der körpernahen Dusche hat sein wohlgeformtes unteres Rückenteil beim Bücken nach der Shampooflasche die Mischbatterie auf »heiß« verschoben. Der Lautstärke nach zu urteilen, heute auf »sehr heiß«. Ich kenne das Fremde-Duschen-Schauspiel bereits.
Frisch aufgebrüht haben wir auch noch die Wanderkarte vergessen, und wir kommen erst um 12 Uhr in Joditz an. Dort parken wir auf dem großen Platz an der Saalebrücke und suchen per Handy die Busverbindung für den Rückweg. Wir wollen im Voraus wissen, wo unser Zielort sein soll und wann wir dort ankommen müssen, finden aber nichts. Ich schlage vor, dass wir notfalls immer noch ein Taxi nehmen könnten.
Dann kippen wir die gesamten Missgeschicke des Vormittages einfach in die Saale und laufen zuerst zum Jean-Paul-Felsen hinauf, der eigentlich nicht zum Weg gehört.
Sehnsucht nach Zuhause
Des Dichters größter Genuss war es, mit verbundenen Augen auf Anhöhen zu steigen. So wollte er seine Vorfreude auf eine schöne Aussicht vergrößern. Um dann die vollendete Überraschung des ersten Blicks gänzlich auskosten zu können. Die Binde nannte er »Augenschmachtriemen«. … Wie ein Kinderherz, dem die Vorhänge und die Nachmitternacht das nahe Weihnachtsgeschenk verdecken, zog er auf dem Lustschiffe mit fester Binde dem nahen Himmelreiche entgegen …, beschreibt es Jean Paul in seinem imaginären Reiseführer durch die hesperischen Gefilde.
Ein bisschen bot der Jean-Paul-Felsen für uns eine dieser hesperischen Aussichten. Das Wetter, seltsamerweise schon altweibersommerlich, warm und golden; auf dem Platz erstes Herbstlaub, ein paar silberschimmernde Birken und eine Bank auf dem Felsen. Daneben steht eine Tafel mit einem Zitat aus Jean Pauls »Flegeljahre«:
Es kam ihm aber vor, er habe es längst gesehen, der Strom um das Dorf, der Bach durch dasselbe, der am Flusse steil auffahrende Waldberg, die Birkeneinfassung und alles war ihm Heimat alter Bilder. Vielleicht hatte einmal der Traumgott vor ihm ein ähnliches Dörfchen aus Luft auf den Schlaf hin gebauet und es ihn durchschweben lassen.
Laut Eberhard Schmidt ist diese Aussicht erst nach dem Sturm Kyrill wieder möglich, so hoch waren die Bäume zuvor gewachsen. Zu Jean Pauls Zeiten war der Baumbewuchs im Allgemeinen nicht so üppig, sodass Felsen viel freier und somit sichtbarer in der Landschaft standen.
Jetzt freuen wir uns auf den Weg entlang der Saale nach Hof. Wir starten an der Stationstafel 1. Sie steht vor der evangelisch-lutherischen Pfarrkirche St. Johannes im Dorf Joditz.
Quersack auf dem Rücken
Johann Paul Friedrich Richter – wie Jean Paul bürgerlich hieß – wurde 1763 in Wunsiedel geboren. 1765 kam er nach Joditz.
Er wuchs in dem kleinen Dorf als Sohn des Pfarrers auf. Elf prägende Jahre – vom 2. bis 13. Lebensjahr – verbrachte er hier. Er nennt Joditz
deshalb seinen »geistigen Geburtsort«.
In seiner Biographie beschreibt er diese Zeit als zwar ärmlich beengt, aber als die glücklichste Phase seines Lebens. Als Auenthal, Hukelum, Elterlein
kommt der Ort in fast allen seine Romanen vor. Seinem Lehrer Knieling setzt Jean Paul in der Idylle »Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal« ein literarisches
Denkmal, das in die Weltliteratur eingegangen ist.
Zu den »Sommeridyllen« zählt Jean Paul die wöchentlichen Gänge nach der Stadt Hof. »Mit einem passenden Quersack auf dem Rücken« wanderte er
zu den wohlhabenden Großeltern »um Fleisch und Kaffee und alles zu holen, was im Dorf entweder gar nicht zu haben war, oder doch nicht um den äußerst geringen Stadtpreis. Denn die Mutter gab ihm
nur einige wenige Geldstücke mit - es sollte nämlich nicht alles hergeschenkt erscheinen -, damit seine Großmutter, spendend gegen Tochter und Enkel und nur kargend gegen die übrige Welt, den
Quersack mit allem fülle, was etwan auf dem jedesmaligen Küchenzettel stand.«
Jean Paul »Selberlebensbeschreibung«
Durchs Tal der Auen
Ein bisschen stellen wir uns alles hier wie ein »Auenthal« vor. Als Auenlandschaft voller Idyllen. Das Wort »Auenthal« erinnert uns an J. R. R. Tolkiens »Auenland«, die erfundene Welt des britischen Dichters. Sein Auenland ist ein grünes, hügeliges Ländchen, das vom Zwergenvolk der Hobbits bewohnt wird. Und wie sollte es anders sein: Auch die friedliebenden, kleinen Hobbits tranken gerne Bier. Irgendwie scheinen liebliche Landschaften, Bier und friedvolle Wesen zusammenzugehören.
Wie oft muss »Hans Paul«, wie er sich auch in seiner »Selberlebensbeschreibung« nennt, diesen Weg gegangen sein? Wenn wöchentlich, dann vielleicht 40 Mal im Jahr? Und das vier Jahre lang? Dann waren es über 150 Gänge nach Hof und zurück, sommers wie winters. Was beobachtet man währenddessen? Was prägt sich ein? Wie viele Gedanken denkt man, und wie viele Selbstgespräche führt man unterwegs? Welche Tagträume wurden in allen Variationen ausgesponnen? Wie viel Zeit wurde vertrödelt, weil tausend kleine Ablenkungen rechts und links entdeckt werden mussten? Oder gab es zu viel Zeit, um Ängste vor Lehrern oder Mitschülern langsam qualvoll aufzutürmen?
Der Weg vor uns ist ein breiter Schotterweg, der an Feldern mit hochgewachsenem Mais entlangführt. Linker Hand kann man über die Wiesen hinweg die Saale nur erahnen. Am Wegesrand entdecken wir die »Schmidt-Bank« auf Köppelschem Grund. Die Bank ist eine Stiftung des Joditzer Jean-Paul-Museums, von Karin und Eberhard Schmidt, und ist wohl eine Anspielung auf die »SchmidtBank«, einem ehemaligen privaten Geldinstitut aus Hof. Wir schmunzeln über das Wortspiel. Hier, von dieser Bank aus, hat man wahrlich einen Auenblick. Ganz wie ein Herz es sich wünscht.
Weiter auf dem Weg lesen wir Stationstafel 2, die unter einem Apfelbaum steht.
Unter den Menschen
und Borsdorfer Äpfeln sind nicht
die glattesten die besten, sondern
die rauhen mit einigen Warzen.
Man muß seine Ideen verwirklichen
sonst wuchert Unkraut darüber.
Man kann einen seligen, seligsten Tag
haben, ohne etwas anderes dazu zu
gebrauchen als blauen Himmel und grüne
Frühlingserde.
Jede Minute, Mensch,
sei dir ein volles Leben!
Die Erinnerung ist das einzige Paradies,
aus dem wir nicht vertrieben werden können.
Jean Paul
Mitten aus seinem blauen, grünen Paradies reicht uns Jean Paul zur Wegzehrung einen leckeren Apfel mit Warzen. Ist das nicht schön? – denken wir uns, und unser Tag ist jetzt schon selig. Neben der Stationstafel finden wir dann auch noch den Wegweiser zur »Fattigsmühle«, der nächsten kleinen Leben-voll-machenden Freude. Ein Ausflugsziel, das Familien, Wander-, Kletter- und Bierfreunde glücklich macht. Der Biergarten liegt ruhig unter großen, Schatten spendenden Bäumen, zwischen Mühlhaus, Bauernhof, Hofladen und Gasthaus. Dazwischen seht auch noch ein alter »Fendt«, nicht ganz unabsichtlich dicht bei den Bierbänken. Kinder staunen, Väter erklären, Omas müssen gucken kommen. Wir haben Ferien, und wir bemerken, das Bier der »Brauerei Meinel« ist sehr süffig.
Eine Stunde später brechen wir auf. Nach einer Holzbrücke, die wir überqueren, geht es unendlich viele Meter trostlos auf Asphalt steil nach oben durch das Dorf Saalenstein. Ich habe Angst, dass der Weg meine romantische Erwartung jetzt doch enttäuschen wird, und ich frage mich, ob Jean Pauls Wanderungen nach Hof nicht durch poetischere Landschaft geführt haben müssten und man hier einfach den schöneren Weg übersehen hat? Heute haben wir die Antwort auf die Frage in Jean Pauls »Selberlebensbeschreibung« gefunden: … Der zweistündige Weg führte über gewöhnliche reizlose Gegenden, durch einen Wald, und darin über einen brausenden Fluss voll Felsstücke …
Aha! Da haben wir’s. So war sein Weg tatsächlich. (Habe leider erst später erfahren, dass es auch einen Weg auf der anderen Seite der Saale gibt. Vielleicht ist dieser schöner?)
Bald folgt Stationstafel 3.
Der Mensch braucht
bei den besten Flügeln seiner Phantasie
auch ein paar Stiefel für das Pflaster.
Ach, dem Menschen fehlen oft weniger
die Flügel als die Anhöhe auf der er den
Flug anfängt.
Heiterkeit oder Freudigkeit ist der Himmel
unter dem alles gedeiht.
Die Freude und das Lächeln
sind der Sommer des Lebens.
Jean Paul
Wir steigen durch den Wald hinunter zur Saale. Da ist wieder alles grün und gut. Schon mein ganzes Leben lang war Natur oft das Einzige, das mir Trost und Frieden gab. Ganz besonders wohltuend ist es, neben Bachläufen zu spazieren, auf weichen, moosigen Pfaden. Bäche begleiten einen, mäandern wie das Leben, fließen immer auf ein Wiedersehen davon und kommen zum Gruße zurück. Ihr munteres Plätschern ist wie fröhliches Kindergeplapper, so heiter, wenn man Heiterkeit braucht und nicht findet.
Schauriges Saaletal
Eine dramatisch anmutende, hohe steinerne Brücke kündigt sich an, macht sich, zwischen den Bäumen langsam sichtbar werdend, spannend. Es ist die denkmalgeschützte Saalebrücke der Vogtland-Autobahn A72 von Hof nach Chemnitz.
Bevor wir unter ihr hindurchlaufen, gibt der Weg einen Blick auf die Saale frei: Da liegen sie, die Felsstücke im brausenden Fluss. Ein bisschen schwarzgrün und düster erscheint das enge Tal, von Brennnesseln, Mädesüß und Drüsigem Springkraut brusthoch bewachsen. Hinter den hohen Bögen der Brücke geht es wieder über eine kleine Holzbrücke ans andere Ufer der Saale und zur Stationstafel 4.
Die Saale, unheimlicher Fluss
»Die Felsen drängen sich einander entgegen und wollen sich mit den Gipfeln berühren, und die Bäume darauf langen einander wirklich die Arme zu. Keine Farbe ist da als Grün und oben etwas Blau. Der Vogel singt und nistet und hüpft, nie gestört auf dem Boden, außer von mir. Kühle und Quellen wehen hier, kein Lüftchen kann herein. Ein ewiger dunkler Morgen ist da, jede Waldblume ist feucht, und der Morgenthau lebt bis zum Abendthau. So heimlich eingebauet, so sicher eingefasset ist das grüne Stillleben hier und ohne Band mit der Schöpfung als durch einige Sonnenstrahlen, die Mittags die stille Stelle an den allgewaltigen Himmel knüpfen. Sonderbar, daß gerade die Tiefe so einsam ist wie die Höhe.«
Jean Paul »Flegeljahre«
Allnächtlich, wenn die Kirchturmuhr in Joditz zwölf schlägt, schwebt die weiße Frau, in Schleier gehüllt, vom Saalenstein herab zu den Saalewiesen. Wenn
die Joditzer Kirche eins schlägt, kehrt sie zu den Trümmern der Burg Saalenstein zurück. Um Mitternacht sah Pfarrer Richter, der Vater Jean Pauls, eine weiße Gestalt in die Nähe des Saaleufers
schweben und dann auf sich zukommen.
Sein Hündchen sprang auf die Erscheinung zu und bellte sie an. Da beugte sich diese nieder, als ob sie das Tier liebkosen wollte. Nun hörte er einen
jämmerlichen Wehlaut seines Hundes und der Geist schwebte zum Saalenstein zurück. Als das Hündlein trotz Pfeifens und Rufens nicht zurück kam, ging der Pfarrer mit Furcht und Zittern an die
Stelle und fand seinen Wächter tot.
Es ist einem hier schon ein bisschen finster. Aber dann geht es heller weiter, wieder weg von der Saale, durch ein breites Tal. Links ein Waldhang, rechts große Wiesen und Brachen mit üppigen Wildkräutern. Reichlich Schafgarbe, Dost und Beifuß. Weidenröschen leuchten weithin pink. Hummeln und Holzbienen bilden Summwolken über ihnen. Hier steht Stationstafel 5.
Am Ufer der Saale
»Der zweistündige Weg führte durch einen Wald, und darin über einen brausenden Fluss voll Felsstücke, bis endlich auf einer Felderhöhe die Stadt mit zwei Brüdertürmen und mit der Saale in der Talebene den begnügsamen kleinen Träger übermäßig überschüttete und ausfüllte.«
Jean Paul »Selberlebensbeschreibung«
Oh, der Text auf dieser Stationstafel ist justament derselbe, wie der von mir oben zitierte Text aus der »Selberlebensbeschreibung«. Wiederholungen will ich natürlich vermeiden, also vergleiche ich den Tafeltext mit dem Originaltext. Da fällt mir auf: Auf Stationstafel 5 fehlen die Worte … über gewöhnliche reizlose Gegenden … Warum hat man das weggelassen? Literaturwissenschaftler sind doch akribisch. Dass der Dichter ein Stück des Weges nur als gewöhnlich und reizlos empfand? Wen hat das irritiert?
Das Tal öffnet sich nun immer weiter. Entgegen der Beschreibung Jean Pauls, sehen wir die Türme von Hof nicht, sondern nur die ersten Gebäude von Unterkotzau. Der Ort ist heute mit Hof nahezu zusammengewachsen.
Denken an Heinrich
Hinter uns höre ich Menschen laut sprechend durchs Gehölz laufen. Was machen die da? Ah, da sind Hunde dabei. Mir kommt sofort »Jagd« in den Sinn. Da will ich weg, nicht nur gedanklich. Wir legen ein bisschen Tempo zu.
Dreihundert Meter weiter stoßen wir auf Stationstafel 6, mit einem Text zum Grab von Jean Pauls Bruder Heinrich. Es liegt hier unter Bäumen und Büschen, zwischen ein paar Findlingen. Die Worte auf der Tafel ziehen uns in Bann:
Brudergrab von Heinrich Richter (1770–1789), Bruder Jean Pauls
Heinrich Richter ertrank 1789 in der Saale. Es konnte nicht geklärt werden, ob es sich um Mord oder Selbstmord handelte. Die Meinung setzte sich durch, er habe aus Verzweiflung über die nicht endende Not der Familie seinem Leben ein Ende gesetzt. Als Selbstmörder wurde er in der Nähe des Fundortes begraben.
Heinrich Wirth schreibt in seiner Chronik von Hof: »Ein Sohn des Pfarrers Richter von Schwarzenbach a. d. Saale (Bruder Jean Pauls) als Lehrling in einer Handlung dahier, ertrank bei der untern Brücke. Im Publikum herrschte die Meinung, daß Richter von einem hiesigen Rothgerber wegen einer geringfügigen Beleidigung vom Graben aus bis zur Brücke verfolgt, hier vom Letzteren ereilt und über diese hinabgestürzt worden sei. Den Hut des Unglücklichen fand man am nächsten Morgen auf dem dünnen Eise und später den Leichnam bei Unterkotzau. Unterhalb dieses Dorfes an einem Felsen nächst dem Wege nach Isaar, ruht er im Grabe.
Jean Paul besuchte während seiner Abwesenheit dahier diesen Ort gar oft des Nachts mit einer Laterne, was Anfangs den Abergläubigen in Unterkotzau eine Veranlassung zu allerlei tollen Vermuthungen war.«
Wir haben kaum Ruhe zum Lesen, denn die Gruppe mit den Hunden ist nun direkt hinter uns und bleibt, Abstand haltend, stehen. Wahrscheinlich haben sie unseren im Gras sitzenden Fidel entdeckt. Jetzt leinen sie ihre Hunde an Schleppleinen fest und befehlen »Sitz« und »Bleib«. Sie warten und starren in unsere Richtung. Wir gucken und rätseln, lesen aber weiter auf der Tafel. Warum gehen sie nicht einfach an uns vorbei? Der Text ist lang und wir lesen immer noch. Alles stört irgendwie. Ich stelle mich neben Fidel, halte ihn fest, wenn es das war, was sie wollten. Schließlich überholen sie uns wutschnaubend, ohne zu grüßen.
Es braucht Zeit, bis wir uns wieder auf Jean Paul und auf diese doch etwas Dramatisches erzählende Station konzentrieren können. Wir fragen uns, ob sich die Grabstelle des Bruders Heinrich heute tatsächlich genau hier an diesem Ort befindet, dort bei den Findlingen? Es gibt keinen Hinweis.
Das Schicksal des erst 19-jährigen Bruders, dessen »Eisbergspitze des Tragischen«, wir hier nur in kurzen Sätzen wahrnehmen können, erschüttert mich. Mich erschüttert jeder Suizid. Heute gibt es in Deutschland dreimal so viele Suizide wie Verkehrstote – jedes Jahr über 10 000, davon mindestens drei auf Gleisen pro Tag. Jede Stunde ein Mensch, der aus dem Leben geht, weil er keinen Weg, keinen Menschen, kein Zuhause in dieser Welt mehr findet. Bei Kindern und Jugendlichen ist Suizid die zweithäufigste Todesursache. Ich selbst habe in meinem Leben etliche Suizide miterleben müssen, aus dem nahen Kreis oder nur, weil ich gerade im Zug saß. Ein zwölfjähriges Kind aus Hollfeld hat sich mit einem Computerkabel erhängt – wegen Mobbing. So wurde es uns erzählt. Da Suizide so häufig vorkommen, sind sie in aller Leben präsent. Aber niemand kümmert sich.
Sich das Leben zu nehmen, ist ein großer, gewalttätiger Akt gegen sich selbst. Das macht man nicht mal so oder aus Feigheit vor dem Leben, wie manche immer noch meinen. Im Gegenteil: Der Akt des Suizides ist unsicher und geht oft schief, sodass Betroffene mit schweren Verletzungen weiterleben müssen. Das ist fatal. Ein Suizid ist einsam, Ausdruck totaler Verzweiflung und hoch riskant.
Armut – Diskriminierung – Depression – Suizid
Depressionen nehmen zu, aber nicht die Hilfe für Betroffene. Meiner Meinung nach sind depressive Menschen auch nicht »antriebsschwach«. Das klingt, als ob sie »faul« wären und selbst schuld an ihrem Zustand, weil sie ihren »Arsch nicht hochkriegen«. Doch unzählige hochaktive Menschen haben sich das Leben genommen – wie Nationaltorhüter Robert Enke, um nur ein Beispiel zu nennen. Da scheint mir eher das Hilfesystem selbst faul und antriebsschwach zu sein. Oder man unterlässt einfach die Hilfe.
Ich ahne, dass uns das Thema Armut auf diesem Weg mit Jean Paul immer wieder begegnen wird. Und hier haben wir die dramatischste Zuspitzung des Leidens an Armut vor Augen: Ein Mensch geht von dieser Erde, weil er den Ausschluss aus der Gesellschaft nicht mehr aushält. Ob Heinrich sich selbst das Leben nahm oder ob es Mord war, tut gar nichts mehr zu Sache. Er wurde, wie es heißt, verfolgt, in die Ecke gedrängt, an die Wand gestellt – zu Tode gehetzt.
Auch Gestorbene kann man noch mobben
Bis vor 30 Jahren hielt man es mit »Selbstmördern«, wie man heute immer noch in diskriminierender Weise zu sagen pflegt, derart, dass, wenn man sie auch nicht mehr außerhalb des Friedhofs beerdigt, so doch am Rand, an der Nordmauer des Gottesackers. Auch glaubte man, und das nicht nur zu Jean Pauls Zeiten, dass diese Toten nicht tot seien, sondern weiter geistern und den Menschen Unheil brächten. Aber wer brachte hier eigentlich wem Unheil?
Heute gibt man zu, dass das Ausschließen aus einer Gemeinschaft, dem man neuerdings den Namen »Mobbing« gibt, einer Todeserfahrung gleichkommt. Das ist ein Trauma, das tödlich enden kann. Heute leiden nicht nur die ewig Armen unter Armut – denen man nachsagt, sie wollten einfach nicht aus ihrem Prekariat herauskommen, und man könne sie deshalb auch »liegen lassen« – sondern zunehmend auch der gebildete und angeblich regere Mittelstand.
Wie nah sind wir da an Jean Pauls Leben? Wie tief muss der Schmerz der Familie gewesen sein, die in all dieser Misere auch noch Heinrich so jung und auf diese Weise verlor? Da kommt man eigentlich nicht mehr raus. Das kriegt man nicht mehr bewältigt, sondern nur irgendwie bekämpft. Fragt sich nur, wie lange?
Jean Pauls Fenster zum Tod
Jean Pauls Seele rang ums Überleben. Eine Todesvision, die er in Schwarzenbach – ein Jahr nach dem Tod seines Bruders – hatte, beschreibt Günter de Bruyn in »Das Leben des Jean Paul Richter« beeindruckend: … Aus der Winkelschulmeisterzeit in Schwarzenbach ist folgender Vorgang überliefert: Die Wirtin betritt Richters Zimmer und findet ihn bleich, verstört am Fenster stehen. Sie spricht ihn an, doch er hört nicht. Erst beim dritten Mal reagiert er, erwacht wie aus Hypnose und dankt der Frau, weil sie ihn durch ihr Kommen vor dem Ausbruch des Wahnsinns gerettet habe. Das geschieht etwa zu der Zeit, als er 27 Jahre alt, an einem Novemberabend in sein Tagebuch schreibt: »Wichtigster Abend meines Lebens: denn ich empfand den Gedanken des Todes; daß es schlechterdings kein Unterschied ist, ob ich morgen oder in 30 Jahren sterbe, daß alle Plane und alles mir davonschwindet, und daß ich die armen Menschen lieben soll, die sobald mit ihrem bißgen Leben niedersinken …« Und später: »Ich vergesse den 15. November nie. Ich wünsche jedem Menschen einen 15. November. Ich empfand, daß es einen Tod gebe … An jenem Abend drängte ich vor mein künftiges Sterbebette … sah mich mit der hängenden Totenhand, mit dem eingestürzten Krankengesicht, mit dem Marmorauge – ich hörte meine kämpfenden Phantasien in der letzten Nacht …«
Diese Todesvision kommt nicht unvermutet. Sie hat sich angekündigt. Sie ist der Tiefpunkt einer schon andauernden Krise. Wendepunkt ist sie nur dadurch, daß Richter bewußt wird, was mit ihm vorgeht. Die Tagebuchnotiz enthält so etwas wie ein künftiges Programm: »und daß ich die armen Menschen lieben soll.« …
Jean Paul selbst starb an einem 14. November.
Aber jetzt wollen wir uns trollen und glücklich in den Tag gehen, uns am Weg erfreuen. Dafür sind wir hierhergekommen. Von dir, Natur, wollen wir überschüttet und ausgefüllt werden. Ganz und gar.
Nicht mehr weit bis Unterkotzau. Ein paar dunkle Wolken ziehen am Himmel, aber das Wetter bleibt stabil. Es ist später Nachmittag und wir haben Hunger und Durst. In diesem Örtchen muss es doch etwas geben. Der Weg führt uns wieder über die Saale, und hier, bei der Brücke, finden wir Stationstafel 7.
Ach! ich fress’ ihn selber …
In Joditz hatte Jean Paul seine erste große Liebe. Es war die Nachbarstochter Augustine Römer, ein »blauaugiges Bauernmädchen mit eirundem Gesicht und einigen Blatternarben«. Seiner Angebeteten kaufte er in Hof auf dem Markt etwas »Eßbares, Zuckermandeln oder sonst etwas Köstliches«.
Im »Schulmeisterlein Wutz« hat er später diese Erinnerung verarbeitet:
Auf dem Weg wurde »die süße Votiv-Tafel alle Viertelstunde aus der Tasche gehoben, um zu sehen, ob sie noch viereckig sei?« Bei diesem Beweis
durch Augenschein, den er führte, brach er immer wenige und unbedeutende Mandeln aus dem Kuchen … biss sauber die vier rechten Winkel ab und machte ein Acht-Eck, ein Sechzehn-Eck … er tat
schließlich einen Sprung und sagte: »Ach! ich fress’ ihn selber« und weg war der Lebkuchen.
»Ich halt’ es für schwer, einer Geliebten einen Pfefferkuchen zu schenken, weil man ihn oft kurz vor der Schenkung selber verzehrt.«
Jean Paul »Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz«
Wir kennen das Geschichtchen schon von Eberhard Schmidt. Aber Geschichtchen kann man immer wieder hören, vor allem solche. Wie herzig stellen wir uns die Liebesgeschichte zwischen Augustina und Jean Paul vor. Ach, wir wollen sie weiterspinnen! Gab es einen ersten Kuss? Warum kamen sie nicht zueinander? Wir wissen von Eberhard Schmidt, dass Jean Paul eine andere, nämlich Karoline Mayer, geheiratet hat. Was stand zwischen dem kleinen Fritz und Augustina? Die Eltern? Geld? Eine andere Liebe? War es schlicht der Umzug der Familie nach Schwarzenbach, der verhinderte, dass sie ein Paar wurden? Hatte Augustina gewartet? Lange gewartet? Heimlich gewartet? Wurde Augustina später glücklich? Als er berühmt war und endlich ein Einkommen hatte, war da die Kluft zur Bauerntochter zu groß? Wir seufzen.
Wie der junge Johann Paul liebte …
Heute, während ich schreibe, finde ich einen Abschnitt in Jean Pauls »Selberlebensbeschreibung« über seine Gefühle zur Bauerntochter aus der Nachbarschaft, und dieser ist wie ein kleiner Keks: … Auch ist es nicht zu verachten, dass er … nach der Kirche und vor dem Essen zu den Fronbauern der Woche das gesetzmäßige Halbpfund Brot samt Geld austragen durfte, erstlich, weil der Vater das Brot lieber zu groß und also den Bauern eine Freude schickte, zweitens, weil Kinder gern eine ins Haus tragen, am meisten Paul. Zuweilen hatt’ er auch dem Fronbauer Römer (Augustinas Vater) den Ausschnitt Brotlaib zuzutragen; und er sah sich um nach seiner Kirchen- und Herzenheiligen – aber immer vergeblich; denn in seiner Prospektmalerei von Liebe machten doch zehn Schritte mehr oder weniger etwas; und gesetzt, er hätte etwan durch eine besondere Glückgöttin nur einen halben Schritt weit vor ihr gestanden! – Aber ich gebe – denn er hätte dann vollends auch hörbar gesprochen – nicht einmal einen Wink von solcher ausgebliebenen Seligkeit. …
Begegnung mit der »Brauerei Falter«
Wir fragen Passanten nach dem nächsten Gasthaus. Man nennt uns die ehemalige »Brauerei Falter«, nur wenige Meter links vom Jean-Paul-Weg abzweigend, zurück in Richtung Joditz.
Peter erinnert sich:
»Da haben wir doch das Vollmondbier gedreht, weißt du noch?«
Ich kann mich überhaupt nicht mehr daran erinnern, dass das in Unterkotzau war. Es ist ja auch fast 16 Jahre her, dass wir hier für die Deutsche Welle einen TV-Beitrag über das »Vollmondbier« der »Brauerei Falter« gedreht haben. Aber da erkenne ich den Innenhof der Brauerei wieder, und durch die großen Fenster das Sudhaus mit den Kupferkesseln.
Damals kämpfte die Brauerei schon ums Überleben, wie so viele der kleinen Brauereien in der gesamten Region. Da war das »Vollmondbier« ein hoffnungsvoller Marketingeinfall. Das heißt, das Bier wurde bei Vollmond gebraut, abgefüllt und nur bei Vollmond ausgeschenkt. Es war ein dunkelbraunes, süffiges Bier mit etwas höherem Alkoholgehalt. In diesem Getränk sollten vor allem die magischen Kräfte des Mondes zur Wirkung kommen: den Haarwuchs fördern und die Liebeskräfte verjüngen.
Zu jener Zeit hatten wir einen sehr langhaarigen Praktikanten und eine sehr betagte, schlohweißhaarige, zu allen Späßen aufgelegte Nachbarin. Deshalb entschlossen wir uns kurzerhand, eine Szene zur Veranschaulichung jener besonderen Wirkungen zu drehen. Auf unserer großen Terrasse ließen wir nächtens unseren jungen Praktikanten mit Nachbarin Johanna (Nachtrag 2016: Johanna lebt noch und ist mindestens 105 Jahre alt!) tanzen, jauchzen und feixen. Im Hintergrund simulierte ein großer Scheinwerfer den Vollmond.
Das Ganze wurde ein prächtiges TV-Stückchen und wir lachten uns schon beim Schneiden des Films kaputt.
Getoppt wurde das Ganze jedoch von Brauereibesitzer Werner Falter und seinem Freund Karlheinz Spörl, der zur Unterstützung des ganzen Vorhabens nach Unterkotzau gekommen war. Wir kamen also Samstagmorgen mit Team und Technik bei den Falters an. Diese begrüßten uns überherzlich und luden uns schon mal gleich zu einem Bier ein. Wir lehnten höflich ab, da wir ja die Geschichte erst »in den Kasten bringen« mussten, was ein paar Stunden dauern konnte, besonders, wenn man große Produktionshallen auszuleuchten hatte.
Die fränkischen Biere haben einfach eine besondere Wirkung!
»Nach dem Dreh kommen wir gerne darauf zurück«, sagten wir noch und verschwanden mit dem Braumeister im Sudhaus. Wir ahnten aber, dass noch einiges auf uns zukommen würde, da sie schon mehrere Kästen Bier im Wohnzimmer der Falters »gelagert« hatten. Irgendwie schien der Braumeister auch schon vom guten Trunk gekostet zu haben, denn beim Interview, das neben den Sudkesseln stattfand, verstand ich ihn überhaupt nicht, fragte nochmal und nochmal, in der Hoffnung, dass das leichte Lallen verschwinden würde, denn man müsste ihn ja weltweit verstehen können.
Es war vergebens. Irgendwie schlingerten wir uns dann durch den gesamten Bier-Produktionsprozess. An jeder Station eine Vollmond-Lichtstimmung nachinszenierend. Abends wurden wir dann reichlich bewirtet, und beim Mahl bemerkten wir, dass Werner Falter und sein Freund Karlheinz schon einige Vorräte des Vollmondbiers verzehrt hatten. Die Stimmung war grandios. Ich nutzte die Gunst der Stunde, die beiden Freunde zu fragen, ob sie nicht als Komparsen in der Rolle von Vollmondbiertrinkern im Film auftreten wollten, um zu zeigen, wie fabelhaft das Bier wirkt. Nichts taten sie lieber als das. Heraus kam ein so charmantes Schlussbild wie selten: Werner Falter und Karlheinz Spörl lagen sich bierselig in den Armen, sangen glückstrunken und die Bierkrüge schwenkend: »… gar lustig ist die Jägerei, all hier auf grüner Heid, all hier auf grüner Heid!«
Mitte 2008 wurde der Brauereibetrieb aus gesundheitlichen Gründen eingestellt, und die Mitarbeiter von der Hofer »Brauerei Scherdel« übernommen.
Gut versorgt wieder nach Hause
Das Restaurant im Hotel »Falter Hof« ist freundlich und sehr gemütlich. Wir sind mit unseren Rucksäcken und Pudel Fidel herzlich willkommen. Draußen regnet es jetzt doch ordentlich, und wir beschließen, die Etappe für heute zu beenden. Denn bis wir wieder im Auto sitzen, eingekauft haben und zurück in der Ferienwohnung sind, würde es zu spät werden. Glücklicherweise ist die nächste Bushaltestelle gleich hinter dem Gasthaus. Eine halbe Stunde später sitzen wir im Bus nach Joditz und sparen uns das teure Taxi.
Die erste Begegnung mit der Flaschenbierschwägerin
Zum Abendessen gibt es Fischstäbchen mit Kartoffelpüree und Salat. Man wird ziemlich hungrig beim Wandern, und so stopfen wir uns die Bäuche voll. Leider frisst Fidel heute nicht. Ich mache mir Sorgen und frage mich, ob es nicht doch zu viel für den zwölf Jahre alten Pudel wird. Wir werden sehen.
Peter war noch nebenan in der Flaschenbierhandlung, die von der Schwägerin unserer Vermieter geführt wird. Mit ihr hielt Peter ein erstes Pläuschlein. Als Peter ihr vom Jean-Paul-Weg erzählte, bot sie ihm gleich kundenorientiert das »Jean-Paul-Bier« der »Lang-Bräu« aus Schönbrunn an. Dabei sprach sie den Namen des Biers konsequent »Jeehaan-Paul-Bier« aus und nannte uns fortan auch die »Jeehaan-Paul-Wanderer«. Das blieb auch die nächsten drei Wochen so. Dafür wird sie für uns zur »Flaschenbierschwägerin«, zur neuen Hausheiligen, zu der Peter von nun an gerne zur allabendlichen Andacht pilgern wird.
Das »Jean-Paul-Bier« schmeckt uns vortrefflich, und wir schlummern tief und fest.
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