26. Leben und Sterben in Bayreuth – Ankünfte 1

Bayreuth Mitte des 19. Jahrhundert – Zeichnung von Fritz Bamberger
Bayreuth – Colmdorfer Schloss – Jean-Paul-Museum

Bayreuth – Colmdorfer Schloss – Jean-Paul-Museum


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Den kompletten Verlauf des Jean-Paul-Wegs finden Sie hier: Literaturportal Bayern

Weitere Informationen über Jean Paul und Bayreuth: Literaturportal Bayern – Dichterwege. Auf den Spuren von Jean Paul

Siehe auch: Historische Innenstadt von Bayreuth

Jean Paul und Bayreuth

Freitag, 29. September 2017.

Ganze fünf Jahre nach der eigentlichen Wan­de­rung geht es jetzt zwei Tage durch Bayreuth. Mit Fidel war uns das damals, im Jahr 2012, zu viel Stress. Mit einem kleinen Hund durch Trubel und Verkehr macht keinen Spaß, weder für den Menschen noch für das Tier. Und heute müssen wir ohne Fidel durch Bayreuth. Im vergangenen Januar ist er gestorben. Er fehlt uns. Immer noch. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht an ihn denken.

 

Die Bayreuther Etappen führen vorbei an den Groß- und Sonderstationen von 115 bis immerhin 130. Beginnend auf der Königsallee mit dem Colmdorfer Schlösschen, weiter zur Jean-Paul-Schule und dem Miedelpark. Dann zum Jean-Paul-Museum mit dem nahe liegenden Hofgarten, anschließend zum Jean-Paul-Platz, und gar nicht weit zur Friedrichstraße 10, wo Jean Paul auch wohnte. Gleich gegenüberliegend zur Friedrichstraße 5, dem Schwabacher-Haus, in dem Jean Paul von 1813 bis 1825 lebte und starb. Hier werden wir etwas länger verweilen.

Später weiter über die Maxstraße zu Jean Pauls erstem Woh­­nsitz. Daraufhin führt der Weg zu der Stelle, wo einstmals das bekannte und von Berühmtheiten frequentierte Hotel »Zur Sonne« stand. Nun weiter zum Schlossberglein mit dem »Harmonie«-Gebäude, dann zum Kurierhaus »Mühltürlein«, nachher entlang am Sendelbach zum Stadtfriedhof, wo Jean Paul begraben wurde. Die Etappe wird beendet in der »Altstadt« (nicht zu verwechseln mit der »Innenstadt«), wo der »Becher« auf seine Gäste wartet.

 

Diese Etappen sind sehr, sehr, sehr informativ, umfangreich und lohnenswert. Vor allem jedoch: spannend! Der Mensch Jean Paul – als Dichter, Freund, Ehemann und Familienvater – wird uns hier begegnen. Aufschlussreich ist auch das Buch »Jean Paul in & um Bayreuth«, herausgegeben von der Bayreuth Marke­ting & Tourismus GmbH, unter der Federführung von Karla Fohrbeck und Frank Piontek. In diesem Buch wurde »Jean Paul und Bayreuth« als eigenes Thema behandelt. Das ist es auch. Das heißt, für Bayreuth braucht man Zeit.

 

Nun zur ersten Bayreuther Station.

Am Colmdorfer Schlösschen

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Auf der Königsallee steht gegenüber des Colmdorfer Schlösschens die Groß- und Sonderstation 115 »Jean Paul & der Adel«.

Jean Paul & der Adel

 

Kleine Colmdorfer Schlossgeschichte

 

Schon im 16. Jahrhundert gab es in Colmdorf (1398 noch »Kolbendorf«) ein Schloss, das 1622 als »jüngst abgebrannt« bezeichnet wird. Als prominente Besitzerin wird später die Markgräfin Erdmuthe Sophie (1644‒1670) erwähnt, die Gemahlin von Markgraf Christian Ernst. Sie war eine der gelehrtesten Frauen ihrer Zeit, die sich für Literatur interessierte und zwei bedeutende, der Frühaufklärung verpflichtete Geschichtswerke schrieb.

 

1754 wurde dieses Schloss abgebrochen.

 

Für den Freiherrn von Reitzenstein baute man kurz darauf den neuen jetzigen Mittelflügel.

Bereits 1759 erwarb Markgraf Friedrich das Schloss zurück und schenkte es seiner zweiten Frau Sophie Caroline Marie von Braunschweig-Wolfenbüttel, die 1759/60 die beiden Seitenflügel vom Hofbauinspektor Rudolf Heinrich Richter anbauen ließ, der auch als Bauleiter am Italienischen Bau des neuen Schlosses be­teiligt war. Nach ihr wurde es auch »Carolinenruhe« genannt.

 

Weiter vorgelagert an der Grundstücksgrenze zur Königsallee befindet sich heute noch das damalige Gärtnerhäuschen.

 

1787 (in diesem Jahr trat Jean Paul das Amt eines Hofmeisters in Töpen an) gelangte das Schloss in den Besitz von Dietrich Ernst Freiherr Spiegel von Pickels­heim (1737‒1789). Er war Oberforstmeister und einer der wenigen Dichter der Mark­grafenzeit, die über die Grenzen des Fürstentums hinaus bekannt waren, da er zum Halberstädter Freundeskreis des Dichters Johann Wilhelm Ludwig Gleim gehörte.

 

Um 1886 kaufte der Gärtner Johann Friedrich Popp das Schloss und vermietete es.

 

1900 wohnten hier die Dirigenten Franz Beidler und seine Frau Isolde – die erste Tochter Richard und Cosima Wagners.

 

Nach dem zweiten Weltkrieg war Schloss Colmdorf der Wohnsitz von Herbert Barth und seiner Frau Grethe Barth. Sie gründeten 1950 das heutige »Festival Junger Künstler Bayreuth«, das unter der Patronage des finnischen Komponisten Jean Sibelius stand.

 

 

Die Nachkommen des Gärtners Popp besitzen das Schloss als Erbengemeinschaft noch heute.

 

Jean Paul & der Adel

 

In seiner in Bayreuth geschriebenen Erziehungslehre Levana hat Jean Paul die Leitsätze seiner Pädagogik fixiert, doch ging es ihm dabei nicht allein um die »Individualität des Idealmenschen.« Der »Idealmensch« verkörperte sich neben den sozusagen »normalen« Menschen in den Adligen, deren Erziehung er in einzelnen Kapiteln geschlechtsspezifisch erläuterte: zum einen in der »Geheimen Instruktion eines Fürsten an die Oberhofmeisterin seiner Tochter«, zum anderen in der »Bildung eines Fürsten«.

So sehr Jean Paul auch aus einer »armen« Gesellschaftsschicht kam, so sehr hat er sich am Adel gleichsam »abgearbeitet«. Man darf nicht vergessen, dass er ein Kind des Fürstentums Bayreuth, damit ein Untertan des jeweiligen Markgrafen war – und Bayreuth, das er schon in seiner Jugend oft besuchte, die »angehimmelte« ehemalige Residenzstadt des Fürstentums.

 

Schon der erste Roman, der ihm literarischen Ruhm verschaffte – »Hesperus oder 45 Hundsposttage« – hat mit Adligen zu tun: an der Spitze des Kleinstaats steht der Fürst Januar, der in der Residenzstadt Flachsenfingen herrscht. Dessen Söhne sind verschollen und werden schließlich alle gefunden – einschließlich des Erzählers Jean Paul selbst!

 

»Der Titan« ist ein Bildungsroman, der sich um einen Prinzen dreht: Albano de Cesara, Regent des kleinen Fürstentums Pestiz.

 

Noch der letzte Roman Jean Pauls, »Der Komet«, reflektiert den Adel in einer auf die Spitze getriebenen Satire: Der bürgerliche Apotheker Nikolaus Marggraf (!) bemüht sich verzweifelt, seinen fürstlichen Vater zu suchen – aber alles Streben bleibt vergeblich.

 

Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich Jean Paul immer wieder insbesondere zum weiblichen Adel hingezogen fühlte, so wie der Adel sich für Jean Paul interessierte. In seiner Jugend umschwärmten ihn die Weimarer »Titaniden«, 1820 reiste er zum Münchner Hof, wo er von Max I. Joseph und der Königin Karoline empfangen wurde. Die Königin Luise von Preußen war ihm schon 1805 in Bayreuth begegnet. In der Eremitage traf er Herzog Pius von Bayern, in der Fantaisie Herzog Alexander I. von Württemberg, nachdem der preußische Adel nach der bayerischen Übernahme Bayreuth weitgehend verlassen hatte.

Mitgefühl mit »hohen« ...

 

Gewisse Menschen nenn’ ich hohe oder Festtagmenschen, […].

Unter einem hohen Menschen mein’ ich nicht den geraden ehrlichen festen Mann, der wie ein Weltkörper seine Bahn ohne andere Abirrungen geht als scheinbare – noch mein’ ich die feine Seele, die mit weissagendem Gefühl alles glättet, jeden schont, jeden vergnügt und sich aufopfert, aber nicht wegwirft – noch den Mann von Ehre, dessen Wort ein Fels ist und in dessen von der Zentralsonne der Ehre brennenden und bewegten Brust keine anderen Gedanken und Absichten sind als Taten außer ihr – und endlich weder den kalten von Grundsätzen gelenkten Tugendhaften, noch den Gefühlvollen, dessen Fühlfäden sich um alle Wesen wickeln und zucken in der fremden Wunde und der die Tugend und eine Schöne mit gleichem Feuer umfasset – auch den bloßen großen Menschen von Genie mein’ ich nicht unter dem hohen, und schon die Metapher deutet dort waagerechte und hier steilrechte Ausdehnungen an.

Sondern den mein’ ich, der zum größern oder geringen Grade aller dieser Vorzüge noch etwas setzt, was die Erde so selten hat – die Erhebung über die Erde, das Gefühl der Geringfügigkeit alles irdischen Tuns und der Unförmlichkeit zwischen unserem Herzen und unserem Orte, das über das verwirrende Gebüsch und den ekelhaften Köder unseres Fußbodens aufgerichtete Angesicht, den Wunsch des Todes und den Blick über die Wolken.

 

Jean Paul »Die unsichtbare Loge«

 ... und »niederen« Menschen

 

Nach dem Brand mehrerer Häuser in der Bayreuther Vorstadt »Neuer Weg« drückte Jean Paul im Winter 1804 sein Mitgefühl für die Armen aus:

»Die Unglücklichen darunter sind die, die in den abgebrannten Häusern zur Miete wohnten und denen die paar elenden Gerätschaften, womit sie sich durchs Leben spinnen, beschädigt oder verbrannt oder gestohlen wurden. Den meisten von uns kann der härteste Schlag des Zufalls nicht so viel auf einmal zertrümmern, als einer Armen untergeht, die das Spinnrad einbüßt. Es ist fürchterlich, wenn der Arme wieder verarmt.«

Nach allem, was ich bis heute von und über Jean Paul gelesen habe, kann ich nicht mit dem übereinstimmen, dass Jean Paul den Adel »verehrte«. Im Gegenteil. In seinen zahllosen Satiren kritisierte er diese Gesellschaftsschicht in aller Schärfe. Aber weil er von seiner Schriftstellerei leben musste, musste er sich zwangsweise in Adelskreise begeben und mit ihnen verkehren. Nur sie luden ihn in die karrierewichtigen Literatur- und Philosophiesalons, die er eigentlich verachtete. Um als Schriftsteller auf sich aufmerksam zu machen, widmete er schon mal ein Werk, wie die »Levana«, einer Königin, der Königin Karoline von Bayern. Nicht, weil er sie tatsächlich zutiefst bewunderte, er brauchte ein Einkommen. Auch befinden sich in seinen Romanen – jenen mit edler, fürstlicher Personagerie – mitunter perfide Vergewaltiger und ekelhafteste Strategen. 

 

Jean Paul erfand und schrieb sich in kleine, erhabene Fürstentümer hinein, und »lebte« und agierte dort. So entfernte er sich aus dem tiefen Schwarz seiner armen Kindheit und Jugend. So, wie auch ich gerne Schlösser besuche, in ihnen »versinke«, ohne gleich das dahinterstehende Feudal­system zu akzeptieren.

An der Jean-Paul-Schule

Weiter stadteinwärts erreicht man die Jean-Paul-Grundschule in der Königsallee 19. Erst 1962 erhielt sie diesen Namen, mit der Begründung dass Jean Paul hier fast täglich auf seinem Weg zur Rollwenzelei vorbeikam. Die Grundschule war vorher eine Übungsschule der Hochschule für Lehrerbildung. Da hätten wir sie wieder – die »Schulmeisterlein«.

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Hier steht nun die Groß- und Sonderstation 116.

Jean Paul und das Schulwesen

 

Eine Familie von armen Schulmeistern

 

Jean Paul wird am 21. März 1763 in Wunsiedel geboren. Er entstammte einer Dynastie von Schulleuten: Schon der Großvater Johann Richter war Lehrer in Neustadt am Kulm, der Vater amtierte seit 1760 als Lehrer in Wunsiedel.

 

Der Großvater war immerhin Rektor gewesen, der Vater hatte es gerade einmal zum Tertius, zum dritten Lehrer gebracht – und dies erst nach zehn Jahren Warte­zeit, die er als Hauslehrer im Bayreuthischen fristete.

 

War schon die Stelle des Großvaters nicht besonders gut bezahlt worden, so ging es in Joditz, wo Jean Paul zunächst die Schule besuchte, erst recht arm zu. Jean Paul spricht in seiner Selberlebensbeschreibung von der »gewöhnlichen bayreuthischen Hungerquelle für Schulleute«.

 

Die Prägung des Dichters durch die Schule war indes außerordentlich stark: er sollte nicht nur 1780 in Hof die Rede zur Schulentlassung halten und selbst 1787 bis 1789 in Töpen als Hofmeister tätig sein. 1790 gründete er in Schwarzenbach a. d. Saale eine Elementarschule, die er bis 1794 leitete und an der er auch lehrte. 1807 veröffentlichte der Vater von drei Kindern, jetzt in Bayreuth zuhause und hauptberuflich Dichter, auch eine große pädagogische Schrift, die Erziehungslehre Levana. Sie enthält heute zum Teil überholte, aber für die damalige Zeit kluge, aus dem Leben gewonnene Ratschläge für eine geglückte Erziehung – auch Hinweise auf die miserable Bezahlung der Lehrer im Bayreuthischen: »Die einzige Schul­krank­heit, welche Lehrer haben, ist Heißhunger.« Auch Goethe, der Jean Pauls Dich­­tungen nicht gerade mochte, gehörte zu den begeisterten Lesern der Levana.

 

In Bayreuth traf sich Jean Paul – u. a. in der Harmonie – häufiger mit Johann Baptist Graser. Dieser wirkte hier seit 1810 als Kreisschulrat und war einer der be­deutendsten Schulpolitiker und Pädagogen seiner Zeit. Jean Paul meinte, dass Graser es nicht nötig habe, die Levana zu lesen, denn er könne die Zeit besser nutzen: zum Verwirklichen eben der Erziehungslehre.

Keine Schule ohne Ferien

 

Ich möchte noch den Totenkopf des guten Mannes streicheln, der die Hundsferien erfand; ich kann nie in ihnen spazieren gehen, ohne zu denken: jetzt richten sich im Freien tausend gekrümmte Schulleute empor, und der harte Ranzen liegt abgeschnallet zu ihren Füßen, und sie können doch suchen, was ihre Seele lieb hat, Schmetterlinge – oder Wurzeln von Zahlen – oder die von Worten – oder Kräuter – oder ihre Geburtsdörfer.

 

Jean Paul »Leben des Quintus Fixlein«

 

 

 

Durch langes Belehren, dem kein Schritt des Schülers abgemessen genug ist, können Schulleute von Verstand auf die Frage kommen: »Wie will der arme Scholar einmal ohne unser Lenken rechtgehen, da er schon bei demselben irreläuft?« […] Sie (die Furcht des Schulherren) ist der ähnlich, die eine Mutter darüber hätte, wie wohl der kahle nackte Fötus, wenn er in die kaltwehende Welt kommt und mit nichts mehr von ihrem Blute ernähret wird, sich doch fortfriste.

 

Daß das Zeitalter so viel über Erziehung schreibt, setzt gleich sehr ihren Verlust und das Gefühl ihrer Wichtigkeit voraus. Nur, verlorne Sachen werden auf der Gasse ausgerufen.

 

Jean Paul »Levana oder Erziehlehre«

Grausame Zeiten für Kinder

 

Nur möchte unter allen Schullehrern, welche den Verfasser und die Leser desselben geprügelt haben, und welche mit dem Stocke als mit einer pädagogischen Stocklaterne und einem Laternenpfahl zu erleuchten gewußt, oder welche mit ihrer Faust so zu wuchern verstanden […] unter allen allen Schullehrern selten ein Johann Jakob Häuberle aufzutreiben sein. Wer unter uns will sich rühmen,

wie Häuberle in 51 Jahren und 7 Monaten Schulamts 911 527 Stock- und 124 000 Ruten-Schläge ausgeteilt zu haben – dann 20 989 Pfötchen mit dem Lineal – nicht bloß 10 235 Maulschellen, sondern dabei noch 7 905 Ohrfeigen Nachschuß – und an den Kopf im ganzen 1 Million und 115 800 Kopfnüsse? Wer hat 22 763 Notabenens (wohlgemerkt) bald mit Bibel, bald mit Katechismus, bald mit Gesangbuch, bald mit Grammatik, […], gegeben als Jakob Häuberle? Und ließ er nicht 1 707 Kinder die Rute, die sie nicht empfingen, doch emporhalten, wieder 777 auf runde Erbsen und 631 auf einem scharfen Holzprisma knien, wozu noch ein Pagencorps von 5 001 Esel-Trägern stößt? Denn wenn es einer getan hätte, warum hätte er diese Wundenzettel nicht ebensogut als Häuberle, von welchem allein es ja nur zu erfahren war, in einem Prügel-Diarium oder Martyrologium oder Schul-Prügel-Reichs-Tags-Journal eingetragen?

 

Jean Paul »Levana oder Erziehlehre«

Man hätte das Exzesshafte dieser Form von Gewalt gegenüber Schwä­cheren nicht erschütternder beschreiben können. Das ist purer Sadismus. Menschen meines Alters haben das in ihrer Kind­heit und Schulzeit genau so erfahren müssen. Mehr braucht man nicht zu sagen.

Jean Paul und die Prügelstrafe

Nun, wäre aber auch noch zu erwähnen, dass Jean Paul seinem Sohn Max gegenüber auch nicht anders gestrickt war, was die Prügelstrafe betrifft. Während seine Töchter die volle und entspannte Zuneigung des Vaters genießen durften, wurde Max einer anderen Behandlung unterzogen.

 

1826 schreibt Emma, die älteste Tochter Jean Pauls, an den Kunstkritiker und Maler Ernst Förster, ihren zukünftigen Ehemann, über ihren Vater: … Wir durften alles sagen, sogar jeden Spaß über den Vater zu ihm selber. Seine Strafen gegen uns Mädchen waren mehr passiv als aktiv; sie bestanden in Verwei­gern oder in einem Strafwort; unser Bruder aber, der aus Knabenscham sein Herz nicht mit den Händen bedeckte, sondern mit den Fäusten und mit diesen oft uns, wurde zuweilen körperlich gezüchtigt. Der Vater sagte dann: »Max, heute nach­mittag kommst du um drei zu mir, da kriegst du deine Prügel.« Er kam pünktlich und litt sie ohne einen Laut. …

Eduard Berend »Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten der Zeitgenossen«

 

Jean Paul wollte aus seinem Sohn einen Soldaten machen, das ließ er Karl August Varnhagen von Ense, Diplomat und Schriftsteller, wissen: … Jean Paul zweifelte keinen Augenblick, daß die Deutschen nicht gleich den Spaniern sich erheben, daß die Preußen ihre Schmach rächen und das Vaterland befreien würden; er hoffte, sein Sohn würde es erleben, und wollte es nicht leugnen, daß er ihn zum Soldaten erziehe. …

Eduard Berend »Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten der Zeitgenossen«

 

So ist wohl jeder in mehr oder weniger subtile Gewalt verstrickt. Demütigung geht immer. Früher wurden meistens Männer in ihr gefangengehalten, oft auch mithilfe der Frauen. »Demü­t­igung« war, ist und bleibt das große Thema, das ei­gent­lich hätte überwunden werden kön­nen. Nun gibt es sogar neue begriffliche Feinunterscheidungen in diesem Verhalten­skomplex, wie »Mobbing«, »Dissen«, »Viktimisierung«, »Shitstorm«, »Hate Speech« und viele andere. In der Soldatenwelt wird De­mütigung im­mer noch als zur Profession zugehörig weiter­vermittelt.

Im kleinen Miedelpark in Bayreuth
Im kleinen Miedelpark in Bayreuth

Im Miedelpark – Jean Pauls grünes Schreibstübchen

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Läuft man nun ein bisschen weiter, erreicht man schon bald Groß- und Sonderstation 117 auf dem Bayreuther Jean-Paul-Weg. Sie steht im Miedelpark. 

Groß- und Sonderstation 117 im Miedelpark  – »Jean Paul und die ›Dinte«
Groß- und Sonderstation 117 im Miedelpark – »Jean Paul und die ›Dinte«

Jean Paul und die »Dinte«

 

Selbstgemachte »Dinte«

 

Bereits 1745 ist ein Park an dieser Stelle bezeugt, wo die Königsallee die Dürschnitz und den ehemaligen Verlauf des Tappert-Baches berührt. 

Aus der Zeit Wilhelmines von Bayreuth hat sich am Gebäude Dürschnitz Nr. 7 noch das Gartenzimmer des Hauses mit seinen bunten Stukkaturen erhalten. Hier fanden gelegentlich Feste statt, auch kleine Konzerte im Grünen.

 

Jean Paul durfte seit 1808 den Park, der zum Anwesen des Kammerrats und des Landtagsabgeordneten Johann Martin Christoph Miedel (1765‒1822) gehörte, als idyllische Arbeitsstätte nutzen. Oft diente er einfach als Ruhestation auf dem Weg von oder zur geliebten Rollwenzelei. In Miedels Garten wurden die »Sommerkinder« des Dichters geboren, z. B. schrieb er hier Teile seines letzten Romans »Der Komet«. 1821 notierte er an dieser Stelle den dazugehörigen »Traum über das All« (der auch als Hörtext erlebbar ist).

 

Parkherr und Poet verstanden sich offenbar gut. Manchmal schickte der Gast­geber dem Dichter zur Erfrischung und poetischen Berauschung Johannisbeer­wein oder Blumenstöcke.

Jean Paul wiederum bedankte sich mit einem Stück Schweizer Käse von einem Laib, den er von einem Schweizer Verehrer geschenkt bekommen hatte. Es blieb genug übrig, denn der Laib Käse war riesig: nämlich »so groß wie eine Tischplatte in Miedels Garten«.

 

Und das Geschenk eines »Miniatürgartens« beantwortete Jean Paul mit einer Flasche »nicht vino tinto, sondern bloß Dinte«. Dies war ein wertvolles Geschenk, denn Jean Paul pflegte seine Tinte selber herzustellen (was einiger Wochen bedurfte) und lobte sich gerne wegen seiner kräftigen Farbe.

 

Nicht vergessen werden sollten auch die Tanzstunden und Bälle bei Miedels, bei denen sich besonders Odilie, die jüngste Tochter des Dichters, vergnügte.

Briefe an Kammerrat Miedel

 

Dank an den Abgeordneten in München

 

Ihr reizender Garten – aus dem ich eben schreibe – und der Gärtner werden diesmal 1 1⁄2 Monate eher fertig, so wie wahrscheinlich die Stände-Versammlung um eben so viele später. – Der Blumen-Harem freilich blüht und verblüht, wie ein orientalischer, ohne den Besitzer; die Feldhelm ist ab – und die weiße Ca.rmel aufgeblüht. Welch’ ein Blumenweiß! –

Es gehe Ihnen recht froh! – Ihr ergebner J. P. F. Richter

Jean Paul am 4. März 1822

Geschenke-Tausch

 

Ich wollte Ihnen heute, hochgeschätzter H. Kammerrat, im Garten für Ihr köstliches Geschenk eines Miniatürgartens danken, welchen ich jetzo sogar bei schlechtem Wetter besuchen kann. Hier send’ ich Ihnen eine Bouteille nicht vino tinto, sondern bloße Dinte, mithin Schwarz auf Weiß Ihres Bäumchens. Da ich als Autor blos mit Dinte bei dem Publikum handle, obwohl nicht mit dem rohen Materiale, sondern schon fein verarbeitet zu Buchstaben: so kann ich Ihnen auch nichts bessers geben und Sie werden die rohe Einfuhr schon wie ein Engländer zu einem kostbaren Ausfuhrartikel zu veredlen wissen; denn Sie müssen als ein der Wissenschaft Lebender durchaus eine bessere Dinte haben als die gelbe Kanzlei-Dinte.

Mit Dank und Hochachtung Ihr ergebenster J. P. F. Richter

Baireuth, 11. Juni 1823

Garten-Idylle

 

Jean Paul sendet ein Porträt von sich

 

Etwas Angenehmeres als das Original, das Sie jeden Sommermorgen in Ihrem Garten sitzen sehen, kann ich Ihnen hier in Ihre Kunst-Schiebladen einquartieren nämlich den guten Kupferstich von mir.

Möge dieser erste Abdruck Sie an den Dank erinnern, den Ihnen das Urbild für so viele Freuden Ihres Gartens schuldig ist!

Jean Paul am 17. Januar 1823

Eine Bitte um Frühlingserde

 

Der Empfänger und Pfleger des Orangebäumchen bittet den gütigen Geber desselben um ein kleines Almosen und Konvikt von Frühlingserde, damit seine Blätter nicht so gelb werden wie dieses Blatt. Er wünscht übrigens dem Gartenfreunde und Gar­tenschöpfer Glück, daß der Winter und Frühling mit seinem Gedeihen besser um­gingen als mit dem des ganzen Gewächsreiches.

Jean Paul im Frühling 1823

Das Jean-Paul-Museum

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Gar nicht weit vom Miedelpark entfernt, unter der Adresse Wahnfriedstraße 1, ist das Bayreuther Jean-Paul-Museum zu finden. Zu diesem gehört auch ein kleiner Garten. Im Garten steht ein Pavillon. Und im Pavillon versteckt sich nun Groß- und Sonder­station 118. Man muss schon genauer hinschauen, um sie zu erkennen.

Groß- und Sonderstation 118 »Jean Pauls Ich & sein Werk«  im Gartenpavillon des Jean-Paul-Museums
Groß- und Sonderstation 118 »Jean Pauls Ich & sein Werk« im Gartenpavillon des Jean-Paul-Museums
Groß- und Sonderstation 118 »Jean Pauls Ich & sein Werk«  im Gartenpavillon des Jean-Paul-Museums
Groß- und Sonderstation 118 »Jean Pauls Ich & sein Werk« im Gartenpavillon des Jean-Paul-Museums

Jean Pauls Ich & sein Werk

 

Meine Wenigkeit: Jean Paul

 

Wenn Ihr wüßtet, wie wenig ich nach J. P. F. Richter frage;

ein unbedeutender Wicht: aber ich wohne darin, im Wicht.

 

Ich habe nichts als mich von meinen Eltern geerbt.

 

Nie vergeß’ ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewußtsein stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht »Ich bin ein Ich« wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen.

 

Man sollte alle möglichen Einfälle auf und gegen sich haben, damit sie kein anderer hätte.

 

Oft, wenn ich so meine eigenen Sachen wiederlas und mich begeistert fand – nicht vom einzelnen, dessen Ursprünge und Zusammentragungen ich ja kenne, sondern – vom Geist des Ganzen: so sagt’ ich und weinte: nun Gott gebe, daß du etwas wert bist – und am Ende glaub ich selbst, er hat das Gebet schon früher erhört. – Auch ärgere ich mich beim Wiederlesen über die Kürze; und beim Schreiben über das Gegenteil.

Jean Paul und Bayreuth

 

Die Beziehung Jean Pauls zu Bayreuth fing schon lange an, bevor er mit seiner Familie in die kleine Stadt am Roten Main zog. Bedenkt man, dass er zu seiner Zeit ein beliebter Dichter war, der sich eine eigene Welt erschrieb und damit zu den ausdrucksstärksten Schriftstellern der deutschen Literatur gehört, verwundert es, dass er – abgesehen von längeren Aufenthalten in Leipzig, Weimar, Berlin, Meiningen und Coburg und kleineren Reisen – kaum die Grenzen seiner Heimat Oberfranken überschritt. Die Alpen und Italien, die er im Titan eindrucksvoll beschrieb, hat er nie gesehen. 21 von 61 Jahren lebte er zuletzt in Bayreuth.

 

War seine äußerliche Lebenswelt viele Jahre lang auch eng, so öffnen sich dem geduldigen Leser durch sein Werk die farbigsten Tiefendimensionen zwischen Humor und Traurigkeit, bürgerlichem Gefühlsüberschwang und adliger Kälte, spießbürger­licher Enge und kosmischer Weite, satirischem Realismus und empfindsamer Metaphorik. Einige seiner wichtigsten Werke entstanden in Bayreuth.

 

Bereits 1780 betrat der Siebzehnjährige zum ersten Mal die ehemalige Residenz­stadt, die im Vergleich zu Weimar – zumindest der Anzahl der Einwohner (10.000) und Häuser (800) nach – nicht ganz unbedeutend war. Als Jean Paul hier wohnte, lebten immerhin ein paar bedeutende Wissenschaftler, denen heute allesamt Artikel in Wikipedia gewidmet sind (so der Physiker Thomas Seebeck, Georg F. Hegels späterer Berliner Nachfolger Georg Andreas Gabler, der Pädagoge Johann Baptist Graser) und weltläufige preußische Verwaltungsbeamte in Bayreuth, mit denen sich der Dichter unterhalten konnte, obwohl er seinen Zeitgenossen äußerlich wie ein be­häbiger und nicht immer gepflegter Bürger entgegenkam.

 

Auch erhielt er oft Besuche, zum Teil von heute noch bekannten Persönlichkeiten: vom Dichter August von Platen, von Ferdinand Grimm (aus der berühmten Grimm-­Familie) oder von den Philosophen Friedrich von Schelling, Friedrich Schleier­macher und Johann Gottlieb Fichte.

 

Nachdem Jean Paul 1804 hier – nach einem Dutzend zwischenzeitlicher Besuche bei Freund Emanuel Osmund und anderen Bekannten – dauerhaft Quartier ge­nommen hatte, schrieb er noch an den letzten Teilen seiner großen Romane »Sie­benkäs« und »Flegeljahre« und den unvollendeten »Komet«. Gleichzeitig zog er mehrmals um; er war ein unruhiger Mieter – und ein Familienflüchtling, der seit 1809 regelmäßig die Rollwenzelei als Arbeitsstätte nutzte.

 

1809 schrieb er seinen kleinen Roman »Dr. Katzenbergers Badereise.«

 

Wichtig ist die finanzielle Unterstützung, die ihn 1809 erreichte: der Fürstprimas des Rheinbundes Karl Theodor von Dalberg gewährte Jean Paul eine jährliche Pension von 1000 Gulden. In das Jahr 1810 fiel eine wichtige Begegnung: die mit dem in Bamberg lebenden Dichterkomponisten E. T. A. Hoffmann, der ihn 1811 in Bayreuth besuchte.

In den nächsten Jahren sollten einige lesenswerte politische Schriften entstehen, die direkten Bezug nehmen auf die politisch höchst unruhige Zeit zwischen der Besetzung der deutschen Lande durch französische Truppen (1806‒1813) und der Restaurationsepoche unter Fürst von Metternich. 

 

Seit 1811 unternahm Jean Paul einige Reisen, die er sehr genoss.

 

1817 wurde ihm in Heidelberg, auf Veranlassung des Philosophen Georg Friedrich Hegel (den er schon 1812 in Nürnberg getroffen hatte), die Ehrendoktorwürde der Uni­versität verliehen, bevor er nach Mannheim, Mainz und Frankfurt reiste.

1818 sollte ihn eine zweite Reise nach Heidelberg und Frankfurt führen, 

1819 zog es ihn nach Stuttgart, im folgenden Jahr nach München, wo er von König Max Joseph I. empfangen wurde. In dieser Zeit entstand auch der Beginn seiner Autobiographie, die »Selberlebensbeschreibung«.

 

Nachdem sein Sohn Max 1821 gestorben war, begann Jean Paul zu kränkeln. 1825 erblindete er und starb schließlich nach kürzerer, schwerer Krankheit, be­trauert von der Bayreuther Bevölkerung.­

Aus Börnes Denkrede

 

Am 2. Dezember 1825 hielt der bedeutende jüdische Publizist Ludwig Börne im Frankfurter Museum (Mit »Frankfurter Museum« ist der 1808 in Frankfurt gegründete Kulturförderverein »Museum« gemeint. Einer der Initiatoren war der oben erwähnte Karl Theodor von Dalberg) eine Denkrede auf Jean Paul, die prophetische und erinnernde Worte enthielt. Sie haben ihre Gültigkeit nicht verloren.

 

Hier ein Auszug:

Ein Stern ist untergegangen, und das Auge dieses Jahrhunderts wird sich schließen, bevor er wieder erscheint; denn in weiten Bahnen zieht der leuchtende Genius, und erst späte Enkel heißen freudig willkommen, von dem trauernde Väter einst weinend geschieden. […] Wir wollen trauern um ihn, den wir verloren, und um die andern, die ihn nicht verloren. Nicht allen hat er gelebt! Aber eine Zeit wird kommen, da wird er allen geboren, und alle werden ihn beweinen. Er aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme. Dann führt er die Müden und Hungrigen ein in die Stadt seiner Lie­be; er führt sie unter ein wirtliches Dach: die Vornehmen, verzärtelten Ge­schmacks, in den Palast des hohen Albano; die Unverwöhnten aber in seines Siebenkäs enge Stube, wo die geschäftige Lenette am Herde waltet und der heiße beißende Wirt mit Pfefferkörnern deutsche Schüsseln würzt. […]

Er sang nicht in den Palästen der Großen, er scherzte nicht mit seiner Leier an den Tischen der Reichen. Er war der Dichter der Niedergebornen, er war der Sänger der Armen, und wo Betrübte weinten, da vernahm man die süßen Töne seiner Harfe. […]

Fragt ihr: wo er geboren, wo er gelebt, wo seine Asche ruhe? Vom Him­mel ist er gekommen, auf der Erde hat er gewohnt, unser Herz ist sein Grab. […] Er ist zurückgekehrt in seine Heimat; und in welchem Himmel er auch wandere, auf welchem Sterne er auch wohne, er wird in seiner Verklärung seine traute Erde nicht vergessen, nicht seine lieben Menschen, die mit ihm gespielt und geweint und geliebt und geduldet wie er. 

 

Hier die ganze Denkrede ...

Jean-Paul-Museum in Bayreuth, Wahnfriedstraße 1
Jean-Paul-Museum in Bayreuth, Wahnfriedstraße 1

Jean Paul wohnt nicht allein in seinem Museum

Das Bayreuther Jean-Paul-Museum befindet sich im Haus Chamberlain. Das Haus Chamberlain war der Wohnsitz von Housten Steward Chamberlain, dem Schwiegersohn von Ri­chard Wagner. Es steht direkt neben Haus Wahnfried, der ehemaligen Villa von Cosima und Richard Wagner, wel­ches heute das – für an die 15 Millionen Euro sanierte – Richard-Wagner-Museum beherbergt und von Besuchermassen regelrecht überschwemmt wird. 

 

Wer nun war dieser Housten Steward Chamberlain? Chamberlain entstammte einer wohlhaben­den Adelsfamilie, wurde 1855 in Portsmouth, Eng­land, geboren und starb 1927 in Bayreuth. Zeit seines Lebens bezog er eine Leib­rente, war finanziell un­ab­hängig und studierte Natur­wissenschaften, blieb aber ohne aka­de­mi­­schen Abschluss. Dann entdeckte er die Philosophie. Und Chamberlain wurde Schriftsteller. Er verfasste Biografien über seinen Schwiegervater Richard Wagner, Immanuel Kant und Johann Wolfgang von Goethe. Sein Hauptwerk mit dem recht harmlos klingenden Titel »Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts« (1899) wurde ein Weltbestseller. Mit mindestens 24 Auflagen. Es umfasst ganze 1 200 Seiten und wurde zur theore­tischen Grundlage des rassis­tischen und ideo­logischen Anti­semitismus in Deutschland. An den hohen Verkaufszahlen kann man sehen, wie viele Menschen sich für seine Theorie begeisterten. Chamberlain gilt als einer der wich­­tigsten intellektuellen Wegbereiter des nationalsozialistischen Rassis­mus. 

 

Aber wie kam Chamberlain eigentlich nach Bayreuth? Chamberlain war Wag­nerianer. Während seines Studienaufenthalts in Dresden engagierte er sich im örtlichen Wagner-Club, denn hier propagierte man antisemi­tische Ideologien, unter dem Vorwand, man wolle die germanische Kultur retten. So gelangte Chamberlain über Kontakte schluss­endlich auch in den inneren Wahn­fried­-Zirkel um Cosima Wagner und machte sich unversehens an ihre Töchter heran. An Blandine, Isolde und Eva. Letztere nahm seinen Antrag an. Aller­dings musste sich Chamberlain erst noch von seiner alten Gattin scheiden lassen. Ging schnell, 1908 wurde geheiratet.

Jean Pauls »WG-Genosse« H. St. Chamberlain und dessen Freund Hitler

Und dann, 1923, erschien sogar hoher Besuch im Haus Chamberlain: kein Ge­ringerer als der damals aufsteigende 34-jährige Adolf Hitler. Chamber­lain und Hitler verehrten sich gegenseitig und halfen einander. Hitler war froh, durch den 68-jährigen Cham­berlain endlich eine akademische Rechtfertigung für seine Mord­pläne gefunden zu haben. Und Cham­berlain war froh, dass seine Theorie durch Hitler endlich in die Praxis umgesetzt werden sollte. So adelt man jedwe­den Völkermord. Macht und Reichtum für die Geburt- und Geldadligen und die Noch-reich-werden-wollenden lässt sich langfristig festzurren. Notfalls mit Genozid.

 

War Chamberlain dann der »erste« Identitäre?

 

Ausgerechnet im Erdgeschoss dieses Hauses Chamberlain wurde 1980 das Jean-Paul-Museum eingerichtet. Jean Paul in einer Wohngemeinschaft mit einem Rassisten, ja einem der gefährlichsten Rassisten überhaupt. 

Bayreuth verleugnet sein eigenes Herz und Hirn gerne, um ja nicht den Glanz Wagners zu beschädigen

Ehrlich, hatte es nichts Besseres gegeben? Nicht nur, dass er mit einem Mordrechtfertiger geistig zusammenwohnen muss, sondern dass er auch noch wie ein kleiner Künstler quasi nur im »Vorgarten« des »ganz großen Künst­lers Wagner« gnä­digst verweilen darf. Das Haus Chamberlain liegt ja direkt neben dem Haus Wahnfried. Bayreuth meint »ja«. Die Stadt dreht es einfach herum und behauptet gütig, der Glanz Wagners fiele doch so auf Jean Paul ab – oder anders formuliert, Wagner könne gut helfen, Jean Paul nicht zu vergessen. So steht es in der Pressemitteilung der Stadt Bayreuth zum 30. Geburtstag des Jean-Paul-Museums 2010 – leider funktioniert der Link heute nicht mehr.

 

Hier jedoch ein Textauszug aus der Webseite des Jean-Paul-Museums in Bayreuth: … Untergebracht ist das Museum im ehemaligen Wohnhaus von Richard Wagners Tochter Eva und deren Mann Houston Stewart Chamberlain, dessen Wirken im »Bayreuther Kreis« die völkische Rezeption Richard Wagners befördert und dessen problematische Weltanschauung und Schriften die Symbiose mit dem Nationalsozialismus eingeleitet haben.

Jean Paul wurde von der NS-Ideologie als verzopfter Apologet kleinbürgerlicher deutscher Innerlichkeit absichtsvoll missverstanden und für die propagandistischen Zwecke der Vernichter von Kultur und Geist missbraucht. Dass nach dem Geist Chamberlains heute der humane Geist Jean Pauls hier eine Heimat gefunden hat, erscheint als symbolische Rettung seiner Ideale, als Sieg des Menschlichen über das Unmenschliche. …

 

Also siegt Jean Paul über Chamberlain und radiert somit das Schlechte von Bayreuths Image aus.

 

Damit adelt Bayreuth mit ihrem Dichter Jean Paul den Widerling Housten. Wie tieftraurig. Bayreuth hat damit, ohne Scham zu empfinden, seinen gro­ßen Menschen­­dichter Jean Paul im Haus des großen Menschenverachters Chamberlain einquartiert. Tatsächlich aber strömen die Besuchermassen an Jean Paul vorbei.

 

Ich bin sprachlos. 

Die umfangreichen Schenkungen ans Museum

Das Jean-Paul-Museum wurde 1980 unter der Anwesenheit zweier Urenke­linnen des Dichters, Gertrud Lacroix-Förster und Adele Metzner, eröffnet. Dann, 30 Jahre später, schenkte Adele Metzner dem Museum wei­te­re wertvolle Schätze aus Jean Pauls Nachlass.

… Bei dieser Schenkung handelt es sich um mehrere äußerst wertvolle Kunstgegenstände: ein Portrait Jean Pauls in Öl aus dem Jahr 1823; ein Kinderbildnis der Ehefrau Jean Pauls – Karoline Mayer – aus dem Jahr 1783; ein weiteres Ölportrait von Karoline – gefertigt von Ernst Förster – aus dem Jahr 1839; ein Portrait von Jean Pauls Sohn Maximilian Ernst Emanuel Richter; eine Zeichnung von Jean Pauls Enkeln Brie, Laura, Herrmann und Erwin von Ernst Förster, sowie das Hochzeitsgeschenk für Jean Paul, das er von der ihn verehrenden Königin Luise von Preußen im Mai 1801 erhielt – einen silbernen Samowar mit Teekanne, zwei Leuchtern und einem silbernen Tablett – und ein kostbares Brillanthalsband, ebenfalls ein Geschenk der Königin. …

Presseerklärung der Stadt Bayreuth

 

Adele Metzner starb am 19. September 2015 im Alter von über 90 Jahren.

 

Eine andere wichtige Schenkung kam von Dr. Philipp Hausser. Er war Arzt, leidenschaftlicher Jean-Paul-Verehrer und Nachfahre der Bankiersfamilie Isaak Josef und Rosa Schwabacher. Das waren Jean Pauls Vermieter. Ihnen gehörte das Haus in der Friedrichstraße 5 in Bayreuth, in dem Jean Paul wohnte und starb.

 

Philipp Hausser vermachte dem Museum die von ihm verfassten Bücher »Die Geschichte eines Hauses« von 1963 und »Jean Paul und Bayreuth« von 1969. Sowie wertvolle Original-Handschriften, Briefe und Drucke, sämtliche Erst­aus­gaben der Werke Jean Pauls, bis auf den zweiten Band der »Grönlän­dischen Prozesse«, dessen Erstausgabe verschollen ist. Darüber hinaus zeit­genössische Gemälde und Objekte aus dem Besitz des Dichters, wie eine Schnupftabakdose, eine Standuhr, ein Kachelofen, ein Schreib­sekretär, Briefe und Skizzen. Kurz, es ist die umfangreichste Sammlung zum Thema »Jean Paul«, die es gibt.

 

2013, zu Jean Pauls 250. Geburtstag, wurde das Museum wieder eröffnet. Dr. Frank Piontek und Architekt Florian Raff haben die Präsentation neu konzipiert, sodass der Schwerpunkt auf der Darstellung des Werks und der Gedankenwelt Jean Pauls – und seiner ganz eigenen Schreibart – liegt.

 

Um es kurz zu machen, mir gefiel das Jean-Paul-Museum in Joditz irgendwie besser.

So schöne Worte haben die Ausstellungsmacher gefunden ...
So schöne Worte haben die Ausstellungsmacher gefunden ...

Wir sind erst am 14. November 2018 im Museum gewesen. Vorher hatten wir es nicht geschafft. Es war Jean Pauls Todestag.

Jean Paul und Richard Wagner – Jean Paul konnte ihn gar nicht kennen

Geht man weiter vom Jean-Paul-Museum im Haus Chamberlain in Richtung Hofgarten, sieht man rechts das Siegfried-Wagner-Haus, dahinter das Haus Wahnfried mit dem Richard-Wagner-Museum und links auch das Franz-Liszt-Museum. Übrigens war Cosima Wagner die uneheliche Tochter von Franz Liszt. Also dann war Richard Wagner wiederum der Schwiegersohn von Liszt. 

 

Direkt hinter all diesen Museen, und östlich des »Neuen Schlosses« im Stadt­zentrum, liegt der »Hofgarten«. Der Hofgarten ist sozusagen der Schloss­park zum Neuen Schloss, und befindet sich folglich auch mitten in der Stadt. Man kann also durch die Fußgängerzone schlendern und fast eben mal durch den Hofgarten spazieren, oder von »A« durch den Hofgarten nach »B« eilen. 

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Neben Haus Wahnfried und vor dem Hofgarten, befin­det sich die Groß- und Sonderstation 119.

Jean Paul und Richard Wagner

 

Prophetische Worte

 

1813 – ausgerechnet im Geburtsjahr von Richard Wagner, schrieb Jean Paul die gern zitierten messianischen Worte zum Dichterkomponisten. Er schrieb dies in Bay­reuth, auf Bitten des Verlegers C. F. Kunz, in der Vorrede zu den »Fantasiestücke in Callot’s Manier« des Dichters E. T. A. Hoffmann, der in Bamberg lebte. Der Ver­le­ger war auch Weinhändler und Jean Paul ließ sich seine Arbeit in natura honorieren.

 

Jedenfalls ging das Zitat in die Bayreuther Geschichte ein, denn hier gab es scheinbar nur einen, auf den diese Prophetie zutraf, nämlich Richard Wagner, der beim Tode Jean Pauls gerade zwölf Jahre alt war.

Und hier sind sie, die bedeutsamen und vielseitig interpretierbaren Worte:

Kenner und Freunde E. T. A. Hoffmanns

und die musikalische Kenntnis und Begeisterung im Buche selber

versprechen und versichern von ihm die Erscheinung eines hohen Tonkünstlers.

Desto besser und desto seltener!

Denn bisher warf immer der Sonnengott die Dichtgabe mit der Rechten

und die Tongabe mit der Linken zwei so weit auseinander stehenden Menschen zu, daß wir noch bis diesen Augenblick auf den Mann harren,

der eine echte Oper zugleich dichtet und setzt.

Die oben zitierte Stelle findet man am Ende von Jean Pauls Vorrede zu Vorrede Jean Pauls zu E. T. A. Hoffmanns »Fantasiestücke in Callot’s Manier«. Da diese Worte von Jean Paul für Bayreuth und seinen Richard Wagner so überaus wichtig erscheinen, lese ich nach.

 

E. T. A. Hoffmann war ein Zeitgenosse Jean Pauls und wohnte 1813 gerade in Bamberg. Hoffmann war Jurist, Schriftsteller, Komponist, Kapellmeis­ter, Musikkritiker, Zeichner und Karikaturist. Ab 1810 arbeitete er beim Bamberger Theater als Direktionsgehilfe (Regisseur), Dramaturg und Dekorationsmaler. Jean Paul und Hoffmann hatten sich in Berlin durch Karoline Mayer, Jean Pauls spätere Ehefrau, kennengelernt. Jean Paul und Hoffmann mochten sich nicht sonderlich.

 

Mehr zum Verhältnis der beiden Künstler unter Frank Pionteks Logen-Blog.

E. T. A. Hoffmann war einer der Schriftsteller der Romantik. Werke, wie »Der Sandmann«, »Lebensansichten des Katers Murr«, »Die Elixiere des Teufels« oder »Nussknacker und Mausekönig«, um nur einige zu nennen, kennt man vielleicht. Es sind sonderbare, unheimliche, mystische, traumhafte, dunkle, düstere, finstere, verworrene, verschlungene, verwandelnde, sehnsuchtsvolle, poetische, märchenhafte, prophetische, visionäre, seelisch aufwühlende und Einblicke in die Tiefen der Seele zeigende, der Zauberei anheimfallende, in Abgründe versinkende, mit dem Tod redende, mit dem Teufel paktierende, den Göttern ausgeliefert seiende, dem Wahn verfallene und was weiß ich für Geschichten.

Im Grunde stammen alle aus dem weltweiten und immerwährenden Fundus, genannt Mythen, Sagen und Legenden. Als Künstler kennt man diese Fundus-Kiste. Egal, ob man malt, bildhauert, inszeniert, schreibt oder kom­poniert. Geschichten solcher Art müssen nicht neu erfunden, sondern nur gefunden und neu aufgemischt werden. Kunst ist eben keine Trickkiste.

Fantasiestücke in Callot’s Manier?

Was bedeutet eigentlich »Fantasiestücke in Callot’s Manier«? Jaques Callot war lothringischer Zeichner, Kupferstecher und Radierer. Er lebte zur Zeit des Barock und wurde bekannt durch seinen Phantastischen Realismus. In ganz Europa wurden Abzüge oder auch Blätter seiner Radie­run­gen gehandelt. Groteske Figuren oder Serien über die Gräueltaten des Dreißigjährigen Krieges zeig­ten Details aus allen gesellschaftlichen Perspektiven. Die der Täter und die der Opfer, mit all ihren Narrheiten und Grausamkeiten. Hoffmann war fasziniert. 

E. T. A. Hoffmann konnte spannende Geschichten finden und erkennen, er konnte spannende Bilder suchen, finden und erkennen, er konnte Musik verstehen, spielen, deuten und gestalten und alles miteinander in Verbindung bringen. Als geschickter Entertainer vernimmt er den Atem der Welt und spürt die Rhythmen der Zeit. Jean Paul hat das verstanden und brachte es in seiner Vorrede zum Ausdruck.

Über die Sehnsucht

Das jedem Kunstwerk Innewohnende jedoch, ist die Sehnsucht. Wahrhaftige Kunst ist mehr als mystische Sehnsucht oder Sehnsucht nach Mystik. Dieses »Mehr« in der wahrhaftigen Kunst, gespeist aus tiefer Liebe, liegt Jean Paul inne, und er sucht es bei E. T. A. Hoffmann – vergebens. … Liebe und Kunst leben gegenseitig ineinander wie Gehirn und Herz, beide einander zur Wechselstärkung eingeimpft. Manches jetzige Kunstpantheon ist deshalb ein durchsichtiger, reiner, blinkender Eispalast – mit allen erdenklichen Gerätschaften aus Eis versehen – sogar mit einem Brautbett und Ofen, in welchem letzten gar ein Naphthaflämmchen ohne Schaden der Eiskacheln brennt. …

Aus Jean Pauls Vorrede zu E. T. A. Hoffmanns »Fantasiestücke in Callots Manier«

 

Empfindet Jean Paul also die Kunst seiner Zeit als Eispalast?

 

In der Romantik war die Verschmelzung von Musik, Malerei und Literatur zu einem universalen Kunstwerk gerade sehr modern geworden, und Wagner ritt gut auf dieser Welle. Jean Paul hingegen lehnte die Romantik sogar ab. Er erkannte jedoch die Bestrebungen E. T. A. Hoffmanns, als Universalkünstler gefeiert zu werden, und blieb deshalb freundlich rezensierend. Für mich klingt es eher so, als sei Hoffmann zwar vielseitig begabt, aber doch leider nicht so genial, dass man aufhören könnte, sich nach etwas wirklich Größerem zu sehnen. Das war keine Prophetie auf Wagner, sondern ein geschickter Seitenhieb auf Hoffmann.

 

Weiter geht es mit dem Text auf der oben genannten Stationstafel.

Jean Paul und Richard Wagner

 

Als Jean Paul die nebenstehenden Sätze über E. T. A. Hoffmann (1776‒1822) schrieb, konnte er nicht ahnen, dass seine prophetischen Worte nur noch mit Richard Wagner in Verbindung gebracht werden. Denn selbst Hoffmann war, wenn auch nur in einem einzigen Fall, sowohl Musiker als auch Dirigent gewesen, als er 1798 das Singspiel »Die Maske« schrieb.

 

In den »prophetischen« Worten hatte Jean Paul übersehen, dass bereits Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth dem von Jean Paul geforderten Idealbild entsprach, als sie 1740 ihre Oper »Argenore« zugleich dichtete und komponierte.

Von mir hinzugefügt : In der Oper verarbeitet Wilhelmine ihre traumatische Kindheit am Berliner Hof des Soldatenkönigs und endet, für eine Barockoper untypisch, tragisch. Wilhelmine war es auch, die mit ihrem Mann zusammen den Bau des Markgräflichen Opernhauses in Bayreuth initiierte. Es ist eines der glanzvollsten Opernhäuser, in einer kleinen Residenzstadt, fern aller euro­päischen Zentren. Weil es kein frei stehendes Gebäude ist, fällt es im Stadtkern von Bayreuth eigentlich kaum auf. Aber es ist ein wahres Juwel. Im Jahr 2017 wur­de es nach langer Restaurierungszeit wieder eröffnet. Mehr über ihr wahrhaft dramatisches Leben und außerordentliches Kulturschaffen, besonders in Bayreuth ist in ihren Memoiren zu lesen.

 

Richard Wagner hat sich interessanterweise genau dieses Idealbild schon in früher Jugend – gestützt auf die Lektüre von Hoffmanns Dialog »Der Dichter und der Komponist« – zu Eigen gemacht. Hier konnte er lesen: »Eine wahrhafte Oper scheint mir nur die zu sein, in welcher die Musik unmittelbar aus der Dichtung als notwendiges Erzeugnis derselben entspringt.«

 

Für Wagner umfasste später das ideale Musikdrama allerdings die Einheit aller Künste.

Die Oper mögen viele als das Höchste der Kunst empfinden, weil alle Künste sich in ihr vereinen sollen. Trotzdem finde ich keinen rechten Zugang zu ihr. Der Gesang, der die einen verzückt, weil so artifiziell, stört mein Ohr. Er zer­trümmert mir die Worte, die gesungen werden. Ich verstehe sie nicht. Allüber­mächtig erscheint mir der Ton. Das Bühnenbild ist manchmal ansprechend und zieht einen vielleicht in eine an­dere Welt. Das Schauspiel ist leider immer vom unverständlichen Gesang dominiert. Das Zahn­rad der ineinander­greifenden Künste greift nicht. Für mich nicht. Ich bin ja auch vom Film.

Oper versus Film

Da stehen mir das spannende, tiefgründige Drehbuch, das natürliche, scharfe, spritzige Dia­logbuch, das gekonnte Schauspiel, atemberaubende Szenenbilder, historisch echte Kostüme, eine unvergessliche Filmmusik, subtile Geräusche, das fesselnde Bild, die einfühlsame Kamera, der verzaubernde Rhythmus des Schnitts, des Erzählens, des Timings, der Spannung, des Lachens, des Gruselns, der Trauer, des Hells und des Dunkels und heute auch aller Effekte, für das zeitlose Gelingen eines Gesamtkunstwerkes – hier von Vielen, nicht aus der Hand nur eines Künstlers – in wahrhaft demokratischster Weise für ein Zusammenspiel aller Künste, zu schauen und zu verstehen für jedermann: im Kino! Ist das bei der Oper auch so?

 

Hätte Jean Paul den Film erahnen können, hätte er ihn vielleicht als Idealbild der Kunst prophezeit? Denn hätte nicht gerade der Film Jean Pauls Traumbilder wunderbar sichtbar machen können?

 

Vielleicht verkörperte E. T. A. Hoffmann in seinem Kunstschaffen für Jean Paul nur eine Art Ansatz. Nach dem Motto: Ok, so könnten sich die Künste in einem Künstler vereinen, wenn sie Geschichten, Worte, Bilder und Musik selbst verfassten. Aber schafft er so automatisch auch Tiefe? Oder versackt er in mystischem und oberflächlichem Geplänkel, das Menschen einfacherweise schon immer fasziniert hat? Und heute erst recht dem gesamten Fantasy-Markt Milliardenumsätze verschafft? Jean Paul fragt – für mich – nach dieser Tiefe. Und sehnt sich nach ihr. Oder anders: Wenn es denn um Sehnsucht geht – ich glaube, Richard Wagner sehnte sich eher nach einem wie Adolf Hitler als Jean Paul nach einem wie Richard Wagner.

Zurück zu Richard Wagner. Eine ganze Groß- und Sonderstation ist ihm ge­widmet, weil Jean Paul einmal einen Satz geschrieben hat, den man auf den »Wichtigsten« der Stadt münzt. Ob Jean Paul damit Richard Wagner überhaupt im Entferntesten gemeint haben könnte? Richard Wagner kannte Jean Paul, ob Jean Paul das Baby Richard Wagner kannte? Mit Sicherheit nicht.

 

Weiter im Text der Tafel.

Richard Wagner und Jean Paul

 

Richard Wagner dachte differenziert über Jean Paul.

1842 schrieb er schwärmerisch, heimatlos in Paris sitzend: »Deutscher sein ist herrlich, wenn man zu Haus ist, wo man Gemüt, Jean Paul und bayerisches Bier hat.«

 

In Bayreuth fand er 1873 zu seinem eher distanzierten Urteil: »Ja, und doch, er hat originelle Gedanken gehabt wie der Tod nach dem Tode, wusste sie nicht anders auszudrücken als in der Form, die uns affektiert erscheint.«

 

1879 erinnert er sich (laut Cosima Wagner) schließlich an seine Lektüre des Siebenkäs: »welches ihm Eindruck gemacht, wie z. B., als dem Helden plötzlich der Gang seiner Braut so auffällt und mißfällt«.

Und 1849 hatte Wagner zwei Artikel zur Theaterreform witzigerweise mit dem Kürzel »J. P .-F. R.« unterzeichnet, woraus man schließlich als Eingeweihter auf Jean Paul Friedrich Richter schließen könnte.

 

Die beiden Meister hatten verwandte Interessen: 

War Jean Paul ein großer Freund der romantischen Tonkunst, so liebte Wagner die klassische Literatur, und so wie der begeisterte, wenn auch laienhafte Klavierspieler Jean Paul in seinen Werken immer wieder, in einem gleichsam musikalischen Stil, bezwingende Musik-Bilder erfand, so schuf der Dichter Wagner literarische Operntexte.

 

Die Forderung Richard Wagners an das Gesamtkunstwerk ging allerdings viel weiter als die Jean Pauls – aber die Sehnsucht Jean Pauls hat sich schließlich im Musikdrama Richard Wagners erfüllt, sodass sich die »prophetischen Worte« denn doch bewahrheitet haben.

Warum vergißt man,

daß die Musik freudige und traurige Empfindungen verdoppelt, 

ja sogar selber erzeugt –

daß die Seele sich in die Reize ihrer Tongebäude wie in Tempel verliert –

daß sie allmächtiger und gewaltsamer als jede Kunst uns von Freude zu Schmerz

ohne Übergänge in Augenblicken hin und her stürzt –

ich sage, warum vergißt man eine höhere Eigentümlichkeit von ihr?

Ihre Kraft des Heimwehs,

nicht jenes nach einem alten, verlassenen Lande,

sondern nach einem unbetretenen,

nicht nach einer Vergangenheit, sondern nach einer Zukunft.

 

Jean Paul »Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele«

 »Selina« ist das letzte Buch von Jean Paul, das der Autor am 27. April 1823 begann und nicht mehr beenden konnte.

 

Ich weiß nicht, was ich zu dem oberen Text auf der Tafel sagen soll. Ich will mich auch gar nicht intensiver mit Richard Wagner beschäftigen, denn es geht doch um Jean Paul. Ich habe nur erfahren, dass der Dichter eine innigliche Beziehung zu einer ehrlichen Wirtin pflegte, der Rollwenzelin. Eine einfache Frau aus dem Volk, sozusagen. Ich weiß nur, dass Jean Paul aus einer eher bäuerlichen Umgebung stammte und seine Mutter zum Schluss verarmt war. Er sich alle Bildung selbst exzerpiert hatte. Er über den inneren Zugang zu allem, zu Wissen, zu Gefühlen, zu Musik, zu Natur, zu Tieren, zu Worten, zu Menschen und zu breitesten Erfahrungen verfügte. Brachte ihn all das nicht zu seiner herrlichen, schrägen, absurden, skurrilen, scharfen und lustigen Sprache, die wirklich nur ihm zu eigen ist?

 

Wie stand es da um Richard Wagner? Ich werde das Gefühl nicht los, dass eben er der Affektierte war, er aber genau wusste, wie man sich über die richtigen Beziehungen geschickt am Kunstmarkt etabliert. Wie viele andere geniale Künstler mit ungesehenen Werken mag es geben, die eben nicht wussten oder wissen, wie sie sich erfolgreich in Kunstmärkten ein­richten sollten oder sollen? Die deshalb unerkannt im Orkus verschwinden, ohne dass sie je einer beachtet? Ist nur die Kunst Kunst zu nennen, die den Weg auf den Kunstmarkt geschafft hat?

Ergänzung von 6. August 2023

Heute, wo wir nun viel über die Söldnergruppe Wagner wissen, und wissen, dass ihr Gründer Dimitri Utkin den Namen »Wagner« nach Richard Wagner gewählt hat, weil Utkin ein bekennender Hitler- und Richard-Wagner-Fan war, bekommt das Wort »Wagnerianer« für mich eine neue Bedeutung.

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