Bindlach – Bayreuth
Den kompletten Verlauf des Jean-Paul-Wegs finden Sie hier: Literaturportal Bayern
Donnerstag, 11. Oktober 2012. Zwei Wochen später. Für diese Etappe haben wir wieder einen extra schönen Herbsttag mit viel güldenem Sonnenschein gewählt. Das Ziel, den Rodersberg oberhalb von Bayreuth, kennen wir schon. Hier liegt der Golfplatz, und hier begegneten wir im vergangenen Winter auch jener besagten Stationstafel 107, die uns zum Wandern des Jean-Paul-Weges veranlasste. Die Aussicht von hier oben auf Bayreuth ist wunderschön, egal zu welcher Jahreszeit. Aber wenn im Herbst die Sonne scheint, und die Bayreuther Ebene im Dunst wie ein opalfarbener Teppich vor einem schwebt, dann ist alles so andächtig, still fließend wie ein großer Strom. Aber beginnen wir erst einmal direkt in Bindlach, bei Stationstafel 102. Sie steht auf dem Kirchplatz vor der prächtigen Barockkirche der evangelischen Gemeinde St. Bartholomäus.
Vater auf der Orgel, Sohn auf dem Klavier
Der Tonkunst war meine Seele (vielleicht der väterlichen ähnlich) überall aufgetan und sie hatte für sie hundert Argus-Ohren. Wenn der Schulmeister die Kirchengänger mit Finalkadenzen heimorgelte; so lachte und hüpfte mein ganzes kleines gehobnes Wesen wie in einen Frühling hinein; oder wenn gar am Morgen nach den Nachttänzen der Kirchweihe, welchen mein Vater am nächsten Sonntage lauter donnernde Bannstrahlen nachschickte, zu seinem Leidwesen die fremden Musikanten samt den gebänderten Bauerpurschen vor der Mauer unseres Pfarrhofes mit Schalmeien und Geigen vorüberzogen: so stieg ich auf die Mauer und eine helle Jubelwelt durchklang meine noch enge Brust und Frühlinge der Lust spielten darin mit Frühlingen und an des Vaters Predigten dacht’ ich mit keiner Silbe. Stunden widmete ich auf einem alten verstimmten Klaviere, dessen Stimmhammer und Stimmeister nur das Wetter war, dem Abtrommeln meiner Phantasien, welche gewiß freier waren als irgend kühne in ganz Europa, schon darum, weil ich keine Note kannte und keinen Griff und gar nichts; denn mein so klavierfertiger Vater wies mir keine Taste und Note. Aber wenn ich doch zuweilen – wie gute neue Tonsetzer für Seil- und Hexentänze und Finger auf Klaviersaiten – eine kurze Melodie oder Harmonie von drei bis sechs Saiten aufgriff: so war ich ein seliger Mann und wiederholte den Fingerfund so unaufhörlich.
Jean Paul »Selberlebensbeschreibung«
Dass und warum Jean Pauls Sprache sehr musikalisch ist, davon haben wir schon von Eberhard Schmidt im Jean-Paul-Museum in Joditz erfahren. Woher seine Musikalität kam, erfahren wir hier: von seinem Vater. Aber auch, warum sie sich bei Jean Paul in der Sprache auslebte. Jean Pauls Vater brachte seinem Sohn das Klavierspielen nicht bei. Alternativ fing der Knabe an, auf seiner eigenen Klaviatur zu spielen und zu variieren: … und Frühlinge der Lust spielten in seiner Brust mit Frühlingen …
Wir wandern Herbst in unsere Herzen, warm und beschaulich aus Bindlach hinaus.
Schon ein wenig außerhalb laufen wir auf einem Feldweg, da brummt auf einmal ein uralter Unimog langsam an uns vorbei. Wir bemerken, Unimogs können gar nicht donnern. Aber wieso fährt hier überhaupt ein Unimog?
Das Rätsel löst sich schnell, denn der kleine Laster ist unterwegs zu einem Weingarten. Ein Weingarten in dieser Region? Ein Schild gibt uns Aufschluss: Es ist der »Weingarten auf dem Wendelshügel«, und er ist ein Projekt des Obst- und Gartenbauvereins Bindlach. 2007 haben die Vereinsmitglieder südlich vom Vereinsgarten einen kleinen Weinberg mit einhundert Rebstöcken angelegt, der für jedermann offen ist und gerne besucht wird. Unter so viel Sonne denke ich an eine Strophe aus Rilkes Gedicht»Herbsttag«: »Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; / gieb ihnen noch zwei südlichere Tage, / dränge sie zur Vollendung hin und jage / die letzte Süße in den schweren Wein.« Von hier aus hat man einen herrlichen Blick auf Bindlach.
Nicht weit von hier bietet Stationstafel 103 mit dem Titel »Zwei Bäume« an, dass man sie gerne wörtlich nehmen darf, was Fidel, im Gegensatz zu uns, sofort verstanden hat:
Zwei Bäume
Besonders frisch und grün aber sind noch zwei andere Herbstblumen der Freude in seinen Gehirnkammern erhalten und aufbewahrt, und beide sind Bäume. Der eine ist bloß ein dickzweigiger hoher Muskatellerbirnbaum im Pfarrhofe, an dessen herrlichen Fruchtgehängen die Kinder den ganzen Herbst hindurch künstliches Fallobst hervorzubringen versuchten, bis endlich an einem der wichtigsten Tage der Jahrzeit der Vater den verbotenen Baum selber auf der Leiter bestieg und das süße Paradies herunterholte für das ganze Haus und für den Bratofen. – Der andere immer grüne und noch herrlicher fortblühende Baum ist aber kleiner, nämlich die abgehauene Birke, welche jährlich an dem Andreasabend bei dem Stamme vom alten Holzhauer in die Stube geschleppt und dann in einen weiten Topf mit Wasser und Kalk gepflanzt wurde, damit sie gerade zur Weihnachtzeit, wenn die goldnen Früchte an sie gehangen wurden, schon die rechten grünen Blätter dazu trüge. Es hatte diese Birke, keine Trauer- sondern eine Jubelbirke, das Eigne an sich, daß sie den dunklen Dezemberweg bis zum Christfest mit Freudenblumen bestreuete, nämlich mit ihren hervorgenötigten Blättchen, wovon jedes neue wie ein Uhrzeiger auf einen zurückgelegten Tag hinwies, und daß jedes Kind unter diesem Maienbaum des Winters sein Laubhüttenfest der Phantasien feiern konnte.
Jean Paul »Selberlebensbeschreibung«
Ach, und wäre es nicht schon genug an herbstlichem Füllhorn, malt sich ein anderes Stimmungsbild in den Horizont. Etwas weiter entfernt, unter einem großen Baum, auf einer Bank, sitzen zwei Omachen in der warmen Sonne und unterhalten sich unentwegt angeregt. Die ganze Zeit bleiben sie da sitzen und schwatzen laut, wie Franken es tun. Sie schreien, könnte man fast sagen, denn wir hören sie noch lange. Auf diese Weise begleiten sie uns ein ganzes Stück des Weges. Das klingt so schön, so schön nach »Zeit haben«, nach Menschen, die das tun, was sie am liebsten tun: sich sozialem Verhalten hingeben.
Auch hier müssen wir jetzt zwischen abgemähten und plattgefahren Maisfeldern weiterlaufen. Immer wieder krachen Landmaschinen an uns vorbei. Immer wieder muss ich Fidel schnell auf den Arm nehmen. So gelangen wir nach Allersdorf und verfangen uns noch einmal im Wegweisergeflecht. Manchmal ist es nicht entwirrbar. Man läuft hin und wieder zurück und wiederum hin, ich laufe alleine vor und gucke, wo es weitergeht, Peter studiert die Karte. Ein GPS-Gerät besitzen wir nicht.
»Da hinten ist eine Bank. Jetzt gibt’s ne Pause!«, beschließe ich. Ein so schöner Sonnenplatz.
Danach geht es wieder ins Grün hinein. Boten des Herbstes und des Erntedanks begleiten uns.
So auch die Worte von Jean Paul auf Stationstafel 104, die uns wohl aus der Sonne ins Dunkel ziehen wollen.
Hölle und Teufel im Diesseits
In der Tat sollten Teufel sich mehr bedenken, ehe sie über die Menschen, die doch ihre adoptierten Kinder sind, herfahren und sie für Tugend-Puritaner erklären, bloß weil sich einer und der andere auch in erhabenen Empfindungen im Vorübergehen scherzweise versuchen will. O wie ungerecht! Fressen sie sich denn darum sofort in den Kerl auf immer ein, und zieht er damit wie mit Hitzblattern und Höckern im Halberstädtischen und unter Reußen und Preußen räudig herum? Mir wenigstens sind solche Überbeine des Erhabenen weder in Bordellen, noch Kaffeehäusern, noch Spieltischen an solchen Reisenden zu Händen gekommen. Die Schlange wechselt zwar oft die Haut, aber nie die nützlichen Giftzähne.
Jean Paul »Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch«
So wie der Teufel in dem Körper des Studenten, den er getötet hatte, auf Befehl des Magikers Agrippa (gemeint ist der Arzt, Philosoph und Schwarzkünstler Agrippa von Nettesheim, 1486–1535) einige Zeit die Stelle der Seele vertrat, und mit den fremden Füßen einen Tag spazieren ging …
Jean Paul »Grönländische Prozesse«
[…] ein Heidenbekehrer in Grönland, welcher, nachdem er mit aller aufgebotenen Rede-Macht den Zuhörern die Hölle recht heiß gemacht zu haben hoffte, zu seinem Staunen immer größere Heiterkeit auf den grönländischen Gesichtern entstehen sah, bis er endlich außerhalb der Kanzel erfuhr, daß er in sämtlichen Kirchengängern durch sein so warmes Gemälde der Hölle ein besonderes Sehnen erregt, in diese zu fahren, gleichsam in ein milderes Klima als ihres.
Jean Paul »Levana oder Erziehlehre«
Ach nein, es war umgekehrt. Nicht vom Licht ins Dunkel, sondern vom Kalten ins Warme. Wenn man in grönländischer Umgebung lebt, kommt einem die Hölle angenehm warm vor, da will man hinein. Warme Hölle ist besser als eisige Tugend.
Äpfel über Äpfel
Ich muss es wiederholen, dieses Jahr ist ein Apfeljahr. So viele und so rote habe ich noch nie gesehen. Der Weg führt an Wochenendgrundstücken vorbei. Zäune, Lauben, Tore, Einfahrten. Hinter einem Maschendraht entdecken wir eine große Wiese mit altem Apfelbaumbestand. Äpfel über Äpfel. Wohin damit?
»Schau mal Peter, hier könnte man gut Schneewittchen spielen!«, fällt es mir ein.
Heute, vielleicht einer der letzten schönen und warmen Tage in diesem Jahr, kann man in jedem Garten die Besitzer umherwuseln sehen. Die Ernte muss eingebracht werden, solange das Wetter noch mitmacht. Wir plaudern mit einer Frau über den Zaun hinweg. Sie klagt, das sei ja so eine Sauerei. Die Äpfel seien zwar schön rot, aber sie wären total sauer und genau so sauer sei sie auch auf die Vorbesitzer des Grundstücks.
»Wie konnten die nur eine so unbrauchbare Sorte anpflanzen«, schimpft sie.
»Was machen Sie denn dann mit den vielen Äpfeln?«, will ich wissen.
»Ah, da kommt heut’ noch einer vorbei, der holt sie ab. Zum Saftmachen.«
»Dann haben Sie ja wenigstens etwas davon«, meine ich.
»Na, na. Der kann den Saft selber trinken. Der schmeckt ja net.«
Aha. So so. Wir grüßen noch und wünschen ihr einen schönen Herbst.
Jetzt gehts ein wenig bergab und wir sehen schon, da kommt eine viel befahrene Straße. Es ist die Verbindungsstraße von Bayreuth nach Weidenberg. Die müssen wir überqueren. Und danach überqueren wir kurz hintereinander gleich drei Mal den selben Bahndamm. Lustig.
Glöckchenklang ist zu vernehmen. Wie von weit. Lieblich bimmelt es uns ins Gemüt. Arkadisch erscheint uns die Welt heute, so voll Licht und Klang. Dann sehen wir, woher die himmlischen Töne kommen. Es ist ein Windspiel, das an einem Eingang eines alleinstehenden Hauses hängt und im Wind sein Tänzchen macht.
Wir fassen uns an den Händen, Fidel läuft zwischen uns. Die Schatten sind schon lang und jetzt wandern sie vor uns mit. Da sehen wir aus wie Jean Paul und sein Pudel Ponto.
»Und ich bin die Rollwenzelin«, sage ich zu Peter. »Die war auch acht Jahre älter. Genau wie bei uns.« Ach nein, sie war sieben Jahre älter als Jean Paul.
»Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht«
Wir streifen den kleinen Ort Höflas und begegnen der ersten Stationstafel (insgesamt sind es drei) mit einem Text aus »Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht«. Hier beschreibt Jean Paul die Geschichte von der wunderbaren Nacht-Gesellschaft, die ihm (dem Dichter) erschien, als er, in einer eisigkalten Winternacht, wachend am Fenster saß, hungrig, von einer Migräne geplagt, über Menschen und Zeiten sinnierend. Denn es war just die Neujahrsnacht vom 18. zum 19. Jahrhundert. Er war allein, seine liebste Hermine (erfundene Ehefrau des Dichters) außer Haus, eine kranke Freundin besuchen. Sie versprach, erst nachts, aber noch in diesem Jahrhundert zurückzukommen. … [ich] … bedeckte die Augen mit der Hand und ließ alles vor mir vorüberziehen, weswegen der Mensch das Leben eitel und nichtig nennt – schnell eilten die künftigen Jahrhunderte, wie Fixsterne vor dem Sternrohr, vorbei, endlich kamen lange Jahrtausende und trieben ein Volk nach dem anderen aus den Städten in die Gräber; die Generationen verfolgten einander wie fliegende Strichregen und schossen in die Grüfte herunter und rissen den Himmel auf, worin der Todesengel sein Schwert durch die Welten hob und keine Sterbenden, sondern bloß das Sterben sah. –
Während dieser Phantasien war mir einige Male gewesen, als hört’ ich leise Worte; endlich vernahm ich nahe an mir diese: »Die drei Propheten der Zeit«; ich tat die Hand vom Auge – – die wunderbare Nacht-Gesellschaft war im Zimmer. Ein langer, totenblasser, in einen schwarzen Mantel gewickelter Jüngling mit einem kleinen Bart (wie der an Christusköpfen), über dessen Schwarz die Röte des lebendigen Mundes höher glühte, stand vor mir, mit einem Arme leicht an einen Stuhl gelehnt, worauf ein erhaben-schöner, etwa zweijähriger Knabe saß und mich sehr ernst und klug anblickte. Neben dem Stuhl kniete eine weißverschleierte Jungfrau, […]. Auf dem Kanapee saß eine rotgeschminkte Maske mit einer seitwärts gezognen Nase und mit einer Schlafmütze; neben ihr ein unangenehmes, mageres Wesen mit einem Schwedenkopf (glatte, kurzgeschnittene Haartracht, eine revolutionäre Mode der Zeit) und feuerroten Kollet (Uniformjacke), höhnisch anblinzelnd, das nackte Gebiß entblößend, weil die Lippen zu kuz waren zur Decke, und ein Sprachrohr in der Hand.
[…] Es sprach: »Mein Name ist Pfeifenberger« […] »Wir sind die drei Propheten der Zeit und weissagen Ihm, mein Freund, so lange, bis das Jahrhundert dezembrisiert (ermordet) ist. Ich spreche zuerst.« –
»Himmel! wer sind sie, wie kamen sie, was wollen sie?« durchfährt es ihn.
Und eben, es sind die drei Propheten der Zeit, und sie weissagen ihm die Zeit: schauerlich, eisig, herzlos, düster und einsam, einem Nachtmahr gleich. Ein Prophet nach dem anderen erhebt das Wort, bis … die geschminkte Maske einen entsetzlich-langen Perioden an(fing) und sagte mit eintöniger ergreifender Stimme: »Wenn die große Uhr in der Marienkirche zu Lübeck nicht mehr zu brauchen sein wird, weil sie gar zu oft umgestellet worden, und weil auch der Mond schon anders umläuft als sie (Sie zeigt den täglichen Stand und Gang der Himmelskörper etc. bis zum Jahr 1875; dann muss sie verändert werden) – Wenn mancher Hottentott noch einen alten, nach »verbesserter und alter Zeit wohl eingerichteten lustigen Historienkalender auf das gemeine Jahr 100 000« vorweisen kann, […]«…
Und jetzt beginnt der lange, lange Satz mit den vielen »Wenns« am Anfang, wie auf Stationstafel 105 zu lesen ist.
Sciene Fiction – Im Jahre 100 000 (Teil 1)
»[…] Wenn wegen der entsetzlichen Bevölkerung alle Dörfer sich zu Städten ausgebauet und die großen Städte mit den Toren aneinanderstoßen und
Paris bloß ein Stadtviertel ist und der Landmann oft auf seinem Dache ackert, das er ganz artig urbar gemacht –
Wenn in ganz Europa so schwer ein hölzernes Haus zu finden ist wie jetzt ein goldnes, bloß weil man bei dem mir begreiflichen Holzmangel statt
der Silberstangen Holzstangen sowohl aus Indien holen muß als aus unsern Schachten, wo die Vorwelt sie so vorsichtig aufgespeichert; daher es leicht zu erklären, warum man dann Glas nur mit sich,
nämlich mit Brenngläsern macht, und warum man im Winter so künstlich von außen heizt mit der Sonne durch besonders geschliffne Scheiben –
Wenn endlich, weil durch ewiges Graben und Münzen das Geld schon lange zu spartischem Eisengeld devalviert geworden, nur Perlen die kleine
Münze sind und Juwelen die große –
Wenn die Prachtgesetze die einfache alte wohlfeilere Tracht zurückgeführt, indem sie überall auf Seide bestanden, und wenn die Mode die
höchsten Verlängerungen und Verkürzungen (bis zur Nationalkleidung der Menschheit, der Nacktheit) und jede Versetzung durchgespielt, so daß bei Weibern die maillots, die Schürzen am Hals, die am
Rücken, die hinten offnen Totentalare, die bed-mats, und bei Männern die mat-beds, die peaux de lion, die Berghabite, die hinten zugeschnallt und zugespitzten Schuhe, die hinten zugeknöpften
Röcke, der doppelte Schuh und die Schleier und Schürzen wieder schon ein paarmal ab- und aufgekommen sind –
(Fortsetzung folgt)
Jean Paul »Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht«
Heute hieß es in den Nachrichten, dass dem Radrennfahrer Lance Armstrong wegen Dopings endgültig alle Medaillen und alle sieben Siege der Tour de France aberkannt werden sollen (dann auch wurden) – und, dass Spanien auf Ramschniveau herabgestuft worden ist.
»Spanien ist ein Land mit Menschen, die über Jahrhunderte Kulturgeschichte geschrieben haben«, meint Peter, »das zählt wohl bei dieser Rechnung nicht.«
Schon gleich folgt Stationstafel 106 mit der Fortsetzung.
Sciene Fiction – Im Jahre 100 000 (Teil 2)
Wenn die Handwerker und Gelehrten in immer kleinere Subsubdivisionen auseinandergewachsen
Wenn das letzte wilde Volk aus seiner Puter-Eierschale ausgekrochen, und zwar schneller als das erste, weil alle zahme an der Schale hackten,
wenn zwischen allen Völkern, wie jetzt zwischen Herrnhutern und Juden, die Schiffe wie Weberschiffe verwebend hin- und herschießen und der Thüringer seinen nordamerikanischen Reichsanzeiger
mithält und den afrikanischen Moniteur –
Himmel! wenn dann der ganze Globus schreibt, der Nord- und der Südpol Autor ist und jede Insel Autorin, wenn Rußland die Werke selber verfertigt, die es eben daher früher nicht eingelassen, und die Molukken mit den Gewürzen aus Habsucht die Makulatur dazu liefern und die Kamtschadalen alle die Blasphemien, Zweideutigkeiten und Höhnereien, die sie vorher mündlich verrauchen ließen, besser in Romane auffangen;
wenn natürlicherweise eigne Städte gebauet werden müssen, wo bloß Bücher wohnen, so wie ganze Judengassen bloß für schreckliche Registraturen;
wenn die Menge so herrlicher Genies und die Menge der Nationalgeschmäcke so vieler Inseln, Küsten und Jahrhunderte die höchste Toleranz,
Übersicht, Vermischung und Laune geboren –
(Fortsetzung folgt)
Jean Paul »Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht«
Endlich geht es hinauf auf den Rodersberg, und endlich wird uns Bayreuth zu Füßen liegen.
Ja, und da oben steht sie dann, Stationstafel 107. Zufällig hatten wir sie im letzten Winter (2012) in der Nähe des Golfplatzes auf dem Rodersberg beim Spazierengehen mit Fidel entdeckt. Von der Existenz eines Jean-Paul-Weges hatten wir überhaupt keine Ahnung. Vom Dichter selbst wusste ich eigentlich auch nur wenig. So wenig kann man wissen, auch wenn man studiert hat. Krass.
Egal. Der nackte Text, der auf der Tafel zu lesen war, hatte uns derartig berührt, dass wir mehr wissen wollten. Wer hat denn das geschrieben? Wann, wo, warum?
Science Fiction – Im Jahre 100 000 (Teil 3)
Wenn man die Wolken so richtig wie kürzere Sonnenfinsternisse prophezeien kann, Schwanzsterne ohnehin; und wenn die Flora und Fauna im Monde so
gut bearbeitet ist als die Länderkunde des Abendsterns –
Wenn alle Raffaele verwittert, alle jetzigen Sprachen gestorben, neue Laster und alle mögliche Physiognomien und Charaktere dagewesen, die
Zartheit und Besonnenheit und Kränklichkeit größer, die Hohlwege zehnmal tiefer und die tiefsten Wahrheiten platte geworden –
Wenn Flotten von Luftschiffen über der Erde ziehen und die Zeit alle ihre griechischen Futura durchkonjugiert –
Wenn alles unzählige Male dagewesen, ein Gottesacker auf dem anderen liegt, die alte runzlichte graue Menschheit ein Jahrtausend nach dem
anderen vergessen und nur noch, wie andere Greise, sich ihrer schönen Jugendzeiten in Griechenland und Rom erinnert und der ewige Jude, der Planet, doch noch immer läuft ––
sag an, o bleicher Jüngling, wann schlägt es in der Ewigkeit 12 Uhr, und die Geisterstunde der Erd-Erscheinungen ist vorbei?«
–
Jean Paul »Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht«
Die Frage, wie kann jemand vor über 200 Jahren eine zukünftige Szenerie beschreiben, die heute tatsächlich Wirklichkeit ist? Dass zum Beispiel Städte zusammenwachsen und Paris nur noch ein Stadtviertel ist? Dass wir die Wolken richtig prophezeien können und der ganze Globus schreibt? Wie kann jemand die Hektik und den Wahnsinn, die Beschleunigung unserer Zeit erahnen? Die Apokalypse der Weltkriege? Digitalisierung, Globalisierung und Turbokapitalismus? Wieso teilt jemand von damals mit uns heutigen Menschen das Gefühl, in die Welt brüllen zu müssen: »Wer hält endlich einmal diesen Wahnsinn an?!« Da reist jemand ohne Vehikel durch die Jahrtausende und hat recht. Wieso?
Der Mensch kann nur durch den Menschen Mensch werden
Noch bevor die Uhr zwölf schlägt, kommt Hermine zurück. Er ist unendlich erleichtert, sie zu sehen: … als auf einmal eine blühende beseelte, die Türe öffnete und durch die luftigen Figuren durchging und mit einer teuern lebendigen Stimme meinen Namen nannte. O wie der Mensch nur durch den Menschen in das Tageslicht des Lebens tritt …
Ihr Erscheinen kommt einer Erlösung gleich. Aber Hermine ist erschrocken, ihren Mann so in diesem Wahnsinnszustand zu sehen. Er aber kann sie beruhigen. Hunger, Frost, Einsamkeit und Schmerzen hätten ihn nur kurz, vorübergehend, in den Wahnsinn und ins Fantasieren getrieben.
Jean Paul hat die Geschichte »Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht« visioniert, quasi geträumt. Träumen und Träume beschreiben kann er hervorragend. Das ist sein Elixier. Er nippt an ihm und schon geht die Reise los. Ob durch Jahrhunderte oder durch Welten, durch Wasser oder durch Lüfte, in Sekunden oder in Schiffen. Dann greift er in seine Wortmeere, fischt darin wie zufällig und setzt neue Planeten zusammen. Immer stimmt es und alles ist reicher als zuvor.
Aber um die Zustände unserer heutigen Welt vorauszuahnen, musste Jean Paul kein Hellseher sein. Schon zu seiner Zeit wuchsen New York und London unfassbar schnell. Durch technische Erfindungen wie die Dampfmaschine und vielem mehr hatte die Industrialisierung längst Fahrt aufgenommen, ja eigentlich schon lange, lange vor Mitte des 19. Jahrhunderts. Jean Paul war ein informierter Mensch. Er brauchte seine Beobachtungen nur hochzurechnen und er landet mit ihnen genau in den Erscheinugen unserer Zeit.
Und was ist nun heute? Nichts. Aber dieses dumme Nichts macht gerade alles kaputt.
Und wie endet die Geschichte der gruseligen Neujahrsnacht?
Hermine geht ans Klavier und singt ihr liebstes Abendlied, … mit den betenden Augen an den Sternen liegend; und unter den heiligen Tönen, die unser Herz verjüngten und es wieder in seinen ewigen Frühling trugen, löseten sanft und kaum bemerkt die Jahrhunderte einander ab. …
Ende. Und was für ein schöner Anfang zugleich.
Bei uns ist es gerade Herbst. Und was für einer! In seinem Licht und Glanz denkt man schon fast, er sei ein Frühling und wollte uns verliebt machen. Wir laufen weiter und die Stelle auf dem Rodersberg wird uns jetzt immer vertrauter. Zu allen Jahreszeiten waren wir schon hier, weil man eine so wunderbare Aussicht hat. Der Weg führt mitten über einen Golfplatz und der Rasen, also eigentlich das Green, lässt die Landschaft aussehen wie einen englischen Landschaftsgarten. Fehlt nur das englische Schloss darin, oder ein feudaler Landsitz, wie wir ihn heute aus Jane-Austen-Verfilmen kennen.
Oft waren wir bei schlechterem Wetter oder gar im Winter hier, da war der Golfplatz verwaist. Heute, an diesem sonnigen Tag, ist so einiges los, wie wir jetzt merken. Neben uns fährt ein Greenkeeper mit seiner Mähmaschine über das Golfgrün. Das muss er bis zu hundert Mal im Jahr, im Sommer täglich, tun.
Ich wunderte mich schon immer, wieso hier einfach Wanderer herumlaufen dürfen. Bei den vielen Golfspielern könnte man doch leicht einen Golfball an den Kopf kriegen, denn diese Spielgrüppchen sind sehr mit sich beschäftigt. Bei allen öffentlichen Projekten wird so eifrig auf Sicherheit geachtet, dass fast nichts mehr möglich ist. Hier gehen die Uhren wohl anders, der Wanderer scheint rechtlos. Dann erblicken wir weiter hinten tatsächlich das meine Frage beantwortende Schild: Wir wandern hier auf eigene Gefahr. Aha. Nur, wenn man von hinten den Berg hochkommt, kann der Ortsunkundige kaum ahnen, dass er plötzlich über einen Golfplatz laufen wird. Wie soll er da rechtzeitig aufpassen?
Nun gut, Stationstafel 108 passt auch irgendwie prima hierhin.
Vom reichen und armen Geiz
Der Bankier
–– diese fleißige Stadt und Menschen-Holländerei (Holländerei bedeutet in Norddeutschland eine Milchwirtschaft oder das Gebäude, in welchem dieselbe betrieben wird.) hatte das Glück, meinen Großohm zu behausen, den Herren von der Haft, einen edlen Bankier, der aus dem Geld nicht viel macht, sondern nur wieder Geld […] und daher weniger gibt als der Geringste.
Jean Paul »Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch«
Der Landschulrektor
Er bestellte lieber für sich und seine Gesellschaftskavaliere (Schüler) den ganzen Fußboden zum Nachtlager; bloß ein Merseburger Fuhrmann lag neben seiner Tochter, als Strohnachbar.
Dennoch übersetzte uns sämtlich am Morgen darauf der Wirt in seiner Liquidation (Rechnung) um zwei bis drei Kreuzer leicht Geld, und
zwar an dem selben Morgen, wo der Rektor das Vergnügen an der Natur vorzutragen hatte. Aber Fälbel glaubte seinen Schülern das Muster einer erlaubten Sparsamkeit dadurch zu geben, daß er anfing,
mit dem Traiteur (Koch) zu fechten […], daß er wirklich einen Groschen herunterhandelte und daß der müde Wirt giftig fluchte und schwor, er wollte den Rektor und seinen Rudel trotz ihren
Bratspießen, wenn sie wieder Geräuchertes bei ihm zehren wollten, mit Heugabeln und Dreschflegeln empfangen. Ein lächerlicher Mann! […]
Und als ich dem Wirte fruchtlos meinen Handschlag als ein Faustpfand und mein Ehrenwort als ein Expektanzdekret ehrlicher Bezahlung offerieret
hatte: mußt’ ich nur froh sein, daß er meine Tochter als eine Pfandschaft und ein Grundstück zum Versatz annahm und behielt, […]
Jean Paul »Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg«
Der Trick mit dem Geiz
»Reicher und armer Geiz«. Hauptsächlich geht es um »Geiz«, und das Thema »Geiz« ist im Fränkischen tatsächlich allgegenwärtig. Ich denke für mich, dass Geiz keine Art übertriebene Sparsamkeit ist, sondern eine bestimmte Art zu denken. Und diese Art zu denken bietet viel Schutz, für den Reichen, als auch für den Armen. Wenn man nach außen hin so tut, als würde man sparen, wird es für Außenstehende nicht mehr erkennbar, ob jemand reich oder arm ist. Praktisch. Wer spart, ist nicht zwangsläufig arm. Noch mehr, wer nach außen hin extrem spart oder geizt, ist wahrscheinlich sehr reich. Ein Beispiel: Die Mutter des reichsten Mannes der Stadt geht zum Metzger einkaufen und fragt zum Schluss die Verkäuferin, ob sie nicht noch ein paar billige Wurstreste für den Sohn übrig hätte.
Der geizige Reiche protzt nicht, sondern er versteckt sein Vermögen. Zum Beispiel parkt er seinen Ferrari nicht da, wo er wohnt, sondern in einer anderen Stadt und fährt ihn nur ein paar Mal im Jahr aus. Oder, wenn er seine Wohnungen vermieten will, nennt er in der Annonce nicht den Mietpreis. Da könnte doch der Nachbar erfahren, wie viel Mieteinkünfte erzielt werden. Oder, wenn der Geizige Gesellschaft braucht, lädt er nicht zu sich nach Hause ein, sondern geht ins Wirtshaus. Hier bezahlt er nur für sein Bier und muss sich nicht mit neugierigen, schnüffelnden Gästen in seinem Haus herumschlagen. Wahrscheinlich gibt es deshalb in Franken diese, von den Franken selbst unbeabsichtigte, herrliche Wirtshauskultur. Die ich sehr liebe.
Wenn Geizige unvermeidliche Feste, wie zum Beispiel Geburtstage, feiern müssen, gehen sie sich nicht »besuchen«, sondern sich gegenseitig »schädigen«, so nennen sie es. Kultur braucht der Geizige auch nicht. Nur, wenn sie geschenkt wird, »geht er schon mal gucken«, aber eher mehr zum Zeitvertreib als zur Horizonterweiterung.
Die Sache mit dem »schleichend Volk«
In diesem Zusammenhang muss ich auch immer wieder an das Wort »schleichen« denken. Ludwig Börne sagt in seiner Denkrede auf Jean Paul: »Er (Jean Paul) aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme.«
Mit sein »schleichend Volk« ist vielleicht gar nicht das sich langsam fortbewegende Volk gemeint, sondern eher das umherschleichende Volk. Wann schleicht man denn? Man schleicht leise, wenn man beim Herumschnüffeln nicht erwischt oder entdeckt werden will. Und der Geizige schleicht schon gerne, ob im übertragenden Sinn oder tatsächlich physisch. Es ist seine Geisteshaltung. Denn das Einzige, das den Geizigen in seiner einsamen, langweiligen Welt plagt, ist nicht Sorge, Not, Scham oder Angst, nicht einmal Eifersucht oder Neid, wie man meinen könnte, sondern Neugier. Seine Neugier hauptsächlich darauf, was sein Nachbar so treibt oder besitzt. Von dieser Neugier aber darf der Nachbar nichts wissen. Diese »Blöße« wird ein Geiziger sich nie geben.
Neugier ist eine Art Sucht, Zwang, Verlangen oder Abhängigkeit. Diese lässt immer tiefere Einblicke in den zu, der sie hat. Seine »Gier« zu verraten, hieße auch, Informationen preiszugeben. Geizige zeigen demnach nie, dass sie auch nur irgend ein »Bedürfnis« hätten. Bedürfnisse zu haben, ist so etwas wie Schwäche zeigen. Und wegen dieser Schwächen könnten sich andere leicht überlegen fühlen. Oder anders: Geizige leben in einer heimlichen Welt, mit heimlichen Gefühlen und heimlichen Gedanken. Geizige glauben, die Kunst des Versteckens perfekt zu beherrschen. Sie glauben es. Ich glaube, sie bleiben auf die Weise sogar seelisch gesund. Ich meine, Geizige erleben wohl kaum seelische Zusammenbrüche.
Kurz gesagt, ein von Neugier geplagter, habgieriger Geiziger bewegt sich nicht, er geht nicht, er wandert nicht, er schleicht. Heimlich. Das ist seine Gangart. Ein Erbschleicher praktiziert sie offensichtlich auch. Er kann quasi nichts als Schleichen.
Meint das Ludwig Börne in seiner Denkrede, wenn er vom »schleichend Volk« spricht, das Jean Paul nachkomme? Und – wird dieses »schleichend Volk« ihm jemals nachkommen können oder wollen? »Schleichend« ist vielleicht eher eine unveränderbare Dauerbefindlichkeit. Wenn dem so ist, kommt Jean Pauls Volk ihm niemals nach.
Jetzt geht es hinunter ins Tal des Roten Mains, erst langsam durch ein Wäldchen, dann an Wiesen entlang, und dann wird es plötzlich ein kurzes Stück ganz steil und matschig. Am Hang sind auch schon viele Rutschspuren unserer Vorwanderer zu erkennen. Aber mit ein paar Kreischern schaffen wir den Engpass. Gut, dass Peter Wanderstöcke dabei hat.
Das Wandern und die Distanzen
Wir erkennen schon von hier aus, dass auf der anderen Seite des Tales die Parkanlage der Bayreuther Eremitage beginnt. Also vom Golfplatz aus gelangt man auch dorthin! Man kommt auf diese Weise von hinten in den Park. Wir kannten bisher nur den »Eintritt« von vorne, vom Autoparkplatz aus, und dann durch die Kanalgärten zum Neuen Schloss/Orangerie mit Sonnentempel.
Ich bin erstaunt, wie alles so zusammenliegt: Bindlach – Golfplatz – Eremitage. Wenn man die Strecken nur mit dem Auto abfährt sieht alles ganz anders aus, erscheint einem viel weiter auseinander gelegen. Es ergibt sich so ein komplett neues Bild von der Stadt und ihrem Vorort. Ein schöner Nebeneffekt des Wanderns. Man versteht auf einmal die Zusammenhänge von Tälern, Bergen, Wäldern, Feldern, Bächen, Wegen und Plätzen. Distanzen werden sogar kürzer, wenn man sie erwandert. Alles ist gar nicht mehr so weit voneinander entfernt.
Zu Jean Pauls Zeiten war »Wandern« «Reisen«. Will heißen, man reiste zu Fuß. Zum Beispiel von Hof nach Bayreuth. Mit dem Auto über die A9 kommt uns die Strecke weit vor. Ginge man zu Fuß über direkte Landwege, dann wäre es wahrscheinlich gar nicht so dramatisch.
Mich erinnert das an meine Aussteigerzeit in den frühen 80er Jahren. Damals jobbte ich in einem Hotel in Monschau, das in einem Tal an der Rur liegt. Monschau ist ein romantisches, mittelalterliches Touristenstädtchen in der Eifel. Ich wohnte in einer alten Bauernkate im benachbarten Dorf Rohren, das auf dem Berg liegt. Damals besaß ich natürlich kein Auto. Also musste ich zu Fuß nach Monschau. Das dauerte eine dreiviertel Stunde. Die Zeit war gut zu kalkulieren, es ging durch Wald und über Wiesen. Am Anfang stöhnte ich, ach Gott zu Fuß! Dann aber wurde die Sache herrlich. Der Weg räumte einen auf, und er fraß keine Zeit mehr. Was für ein Wunder!
Vielleicht ist es ja Jean Paul und seinen fußreisenden Zeitgenossen auch so ergangen? Und wen traf man nicht alles? Bauern, Knechte, Mägde auf den Feldern, Entgegenkommende, die auch zu Fuß reisten, Handwerker auf der Walz, Krämer auf dem Weg zum nächsten Markt, Dichter, Wissenschaftler, Studenten, Kinder mit schweren Rucksäcken, die Verwandte besuchten?
Wir gelangen zu einer kleinen Brücke und überqueren auf ihr nun den Roten Main.
Und finden hier, neben ein paar ersten kleinen, knallroten Fliegenpilzen, auch Stationstafel 109.
Die Ausweitung der Mehrwertsteuer
»Anlangend das Geld,« (fuhr ich fort) »dieses Herz des innern Menschen, so bedaur’ ich seit Jahren die Staaten, die es verfressen und
versaufen. Die besten schneiden ihren Festungs-Sassen nur das Kaffeewasser ab; aber warum lassen sie zu, daß der Kaffee seine Repräsentanten ins Unterhaus schickt, Zichorien, Eicheln, Rüben und
den Satan? Warum stopft man – dieselben Gründe schreien – der Glückseligkeitslehre nur eine Quelle zu? Warum wird Tee, Wein, Fleisch, Bier, Gebacknes so frei zugelassen? Desgleichen Obst,
Gemüse und alles nur Leckerhafte, da gesundes Brot seinen Mann ernährt? – Mit alle diesem könnte ja gehandelt werden nach auswärts und ein hübscher Pfennig Geld ins Inland gespielt – alle Waren
würden, wenn mans täte, wie bei den edeln Holländern die französischen Bücher, nur spediert und verlegt, ohne das geringste Konsumo – Ulrichschlager! würde dann nicht das Staatsgebäude ein
großer, blanker Silberschrank und alle Untertanen Preziosa für den Fürsten, die er angreifen könnte in der Not?« –
Jean Paul »Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch«
Das Geld ist nun bei den europäischen Nationen das Äquivalent und der Repräsentant des Wertes aller Dinge und folglich des Verstandes, um so mehr, da ein Kopf drauf steht.
Jean Paul »Leben des Quintus Fixlein«
Dazu kriege ich heute keinen Kommentar mehr zustande. Mir raucht der Kopf, der Text ist kompliziert, ich verstehe ihn schlecht und müsste jetzt recherchieren und suchen und nachlesen … und dann läuft auch noch im Hintergrund der Fernseher mit dem Parteitag der SPD. Heute, da ich dies schreibe, ist Sonntag, der 19. März und Josefstag. Ein Hochfest der römisch-katholischen Kirche, das zu Ehren des hl. Josef, des Bräutigams der Gottesmutter, und auch als das Ende des Winters gefeiert wird, und Martin Schulz hält seine flammende Rede. Ich finde sie gut, auch dass Kunst und Kultur in die Mitte der Gesellschaft gehört, Frauen und Männer immer gleichberechtigt sind, egal was eine Religion dazu sagt, und dass eine Demokratie nicht und nie Hetze zulassen darf, und man Diktatoren deutlich Grenzen setzen muss. Und, wird es jemals Wirklichkeit werden? Und überhaupt, hat Jean Paul übermorgen Geburtstag.
Mir kracht der Magen, ich will ein Sektchen, dann gibt es Reis, roten Paprika in Butter gebrutzelt, grünen Spargel und Riesengarnelen. Ja, jeder Sonntag ist auch ein Feiertag.
Nachtrag zur Stationstafel 108 und 109
Der Text ist aus »Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch«, hier die »Zehnte Fahrt – Stadt Ulrichschlag – Herr van der Haft – der Staat ein Industriekontor – Kleiderordnung für Bücher«. Giannozzo (Jean Paul) fliegt mit seinem fantastischen Luftschiff über die Erde und macht aus dieser Perspektive unzählige Beobachtungen und sich unzählige Gedanken. Manchmal, wenn er dem Treiben unten nicht mehr zusehen kann, landet er und stattet Besuche ab. In »Vierzehn Fahrten« aufgeteilt, verfasst er von seiner Reise einen Bericht, sein »Seebuch«.
Auf der »Zehnten Fahrt« landet Giannozzo in der Stadt Ulrichschlag und besucht dort seinen Großohm, den Herrn van der Haft, der Bankier ist. Giannozzo will bei ihm einen Wechsel auslösen. Und nun entspinnt sich im Folgenden eine jeanpaulische, labyrinthische Schilderung über die Handlungs- und Gedankenwelten von Menschen, die in Gelderträgen denken und fantasieren, womit sich noch alles Geld machen ließe und wie dieses wiederum zu vermehren sei. Vor dieser Sucht sind auch Staaten nicht gefeit, denn was könnte man nicht noch alles aus seinen Untertanen herausholen?
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