Bad Berneck – Goldkronach
Den kompletten Verlauf des Jean-Paul-Wegs finden Sie hier: Literaturportal Bayern
Nun ist es schon Donnerstag, der 20. September 2012. Wir hatten fast einen Monat Wanderpause. Was die Arbeitslage betrifft, ist die Saure-Gurken-Zeit des Sommers vorbei. Neue Aufträge kommen ins Haus, der Alltag hat uns wieder. Aber immer, wenn das Wetter gut ist, und wir Zeit haben, werden wir Etappe für Etappe weiterwandern. Jetzt ist der Herbst wirklich da.
Aber – was war alles in der Zwischenzeit passiert?
Abschied von Nagel
Zunächst einmal die Abreise aus Nagel. Die fand am Morgen nach der Etappe von Bad Berneck zur Entenmühle statt, am Samstag, den 25. August 2012. Das Packen geht schnell, wenn man nur ein paar Wandersachen dabeihat. Dann Fideldecke, Fidelnapf, Fidelfutter, Landkarten, Prospekte, Laptop, Leergut, und schon ist alles im Kofferraum verstaut. Der Vermieter schleicht die ganze Zeit im Garten und auf unserer Terrasse herum. Peter hatte schon vor zwei Tagen die Fewo-Miete bezahlt, also darum kann es ihm nicht gehen. Ich bin genervt. Als wir uns bei ihm dann per Handschlag verabschieden, gucke ich ihn wohl nicht gerade freundlich an, eher zornig. So eine Art Zorn-Blick, bei dem ich mir einbilde, der andere würde sich fürchten und bekäme vielleicht ein schlechtes Gewissen. Hat aber nie funktioniert. Und natürlich geht auch heute der Schuss nach hinten los, denn nach meiner Blick-Attacke fragt mich der Vermieter: »Haben Sie etwas kaputt gemacht?«
Ich bin fassungslos, sprachlos. Reflexartig sage ich einfach und auch noch freundlich: »Nein.«
»Also dann, gute Reise«, antwortet der Vermieter.
Beim Einstieg ins Auto winke ich ihm noch einmal zu. Jetzt nix wie weg. Doch der Abschied vom Fichtelgebirge fällt uns ein bisschen schwer, wir hatten uns so an das Wandern gewöhnt. Die Entrücktheit von der Welt hat gutgetan.
Es ist fast Ende September – Erntezeit, Jagdzeit
Die heutige Etappe fange ich schon schlecht gelaunt an, denn gestern, bei meiner täglichen Runde mit Fidel durch das naturgebliebene und wunderbar stille Kainachtal, habe ich mich schrecklich geärgert. Das Tal liegt direkt bei Hollfeld. Ich kann es mit Fidel fußläufig leicht erreichen. Hier mäandriert der Bach Kainach, wie er will, ganz ruhig, nur von Auwiesen begleitet. An einigen Stellen stehen noch Reste von Wehren und dann und wann verzückt ein Brücklein. Keine Straße, keine Landmaschinen, zuweilen nur Plätschern und Krähenrufe. Einmal ist mir hier sogar ein junger Fuchs begegnet. Durch ein Gebüsch am Wegesrand schaute er mich lange an, das Köpfchen so klein, so unsicher der Blick. So fragend: Bist du Freund oder Feind?
Der Weg durch das Tal ist ein sechs Kilometer langer Rundweg. Rechts entlang der Kainach bis zum Ort Kainach und links des Baches wieder zurück. Das Kainachtal ist ein beliebtes Ausflugsziel in der Nördlichen Fränkischen Schweiz. Gerade für Familien ist es angenehm, da der Weg ohne Steigung verläuft und für Kinder viele Spiel- und Lehrstationen zu erobern sind.
Und just, ich bin so um fünfzehn Uhr unterwegs, da erspähe ich einen Jäger mit geschultertem Gewehr, immer direkt am Ufer der Kainach entlang staksend. Ich frage mich, ob das bei helllichtem Tag hier so erlaubt sei? Wo doch überall auch Kinder unterwegs sind? Sollen diese ihm beim Jagen zuschauen, wie er Enten oder Hasen schießt? Oder, dass der Jäger einen der pfeilschnellen Radfahrer übersieht und aus Versehen abknallt, weil er ihn für ein Reh hielt? Oder gar auf Fidel zielt, weil der angeblich gerade beim Wildern sein soll? Nicht lachen, hat es alles schon gegeben. Vor Kurzem noch, wurde hier in der Gegend früh morgens ein Mann von einem Jäger auf dem Feld erschossen, weil der Jäger ihn für ein Wildschwein hielt.
Ich koche. Ja! Ich spreche den Mann an und frage ihn, was er hier mit der Flinte macht.
Er sagt: »Enten schießen.«
Ok. Ob er sich denn sicher sei, dass er dabei keine Kinder oder Radfahrer erwischen würde. Nein, das würde er schon merken, antwortet er. Der Mann ist schon ziemlich alt. Ich frage ihn, ob er überhaupt zu dieser Tageszeit hier im Kinder-Ausflugsziel so bewaffnet unterwegs sein dürfe. Da gibt er mir zur Antwort, er habe immerhin ein paar Tausend Euro für die Pacht bezahlt, da könne er schließlich auch jagen wann und wie er will.
Das Herz pocht mir bis zum Hals. Mit solchen Menschen will ich nicht einmal mehr reden, kein Wort. Ich drehe mich um und gehe weiter. Am nächsten Morgen, bevor wir nach Bad Berneck fahren, ruft Peter noch bei der Stadtverwaltung in Hollfeld an, um sich über den Jäger zu beschweren. Peter ist diesbezüglich nicht der Erste. Ich kann heute sagen, ich habe den Flintenträger nie wieder im Tal gesehen.
Gut. Wir sind in Bad Berneck und finden heute die richtige Stationstafel 90 mit dem Titel »Blumensprache«.
Blumensprache
Sie suchte, zog die oberste Schublade der Kommode und hob einen Strauß von italienischen Blumen empor und sagte: »Lieber das da!« und weinte nicht und lächelte nicht. Er hatt’ es oft gesehen, aber da er ihrs selber am vorigen Neujahr- und Verlobungstage als seiner Verlobten geschenkt hatte, und da es so romantisch schön war – eine weiße Rose, zwei rote Rosenknospen und ein Einfaßgewächse von Vergißmeinnicht setzten den bunten Nachschatten einer abgewelkten Flora zusammen –, […]
»Ei, die Vergißmeinnicht« (sagte sie noch kälter und über ihr Gedächtnis erfreuet) »wollen sagen, daß ich dein nicht vergesse und du mein nicht – die Knospen bedeuten Freude – nein, die Knospen bedeuten die Freude, die noch nicht ganz da ist – und die weiße Rose – das weiß ich wahrhaftig selber nicht mehr.« ....
Jean Paul »Siebenkäs«
Gefühle, Blumen und Schmetterlinge leben desto länger, je später sie sich entwickeln.
Jean Paul »Levana oder Erziehlehre«
Um auf dem Jean-Paul-Weg bleibend wieder aus Bad Berneck heraus zu finden, ist es ein bisschen schwierig. Wir laufen ein paar Mal in die falsche Richtung. Unterwegs begegnet uns auf einer anderen Schrifttafel Alexander von Humboldt. Er war zu Jean Pauls Zeiten nämlich auch in dieser Gegend.
Bad Berneck hat viel Geschichte. Bedingt allein schon durch die Lage des Ortes: am Zusammenfluss von Ölschnitz und Weißem Main, am Rande des Fichtelgebirges, in der Mitte Europas. Hier führten auch die wichtigen Handels- und Pilgerstraßen vorbei. Wie zum Beispiel die Via Imperii, die die Ostsee mit Italien verband, von Stettin bis Rom. Ihre Nachfahrin ist heute die Bundesstraße 2. Sie verläuft von der deutsch-polnischen bis zur deutsch-österreichischen Grenze, dabei eben auch durch Bad Berneck, quasi.
Häufig führten die früheren Fernhandelsstraßen über Höhen, um das Tageslicht länger zu nutzen. Auch war man hier etwas sicherer vor Überfällen, weil die Höhenlagen den Dieben zu wenig Deckung boten. Man muss sich vorstellen, dass Tausende von Frachtwagen pro Jahr auf solchen Straßen unterwegs waren. Das war alles andere als einsames Reisen. Ganz viel Interessantes findet man auf der Webseite des Fördervereins historische Stätten e.V. Bad Berneck.
Jetzt müssen wir die Bundesstraße 303 überqueren. Sie verläuft von Schweinfurt bis zur tschechischen Grenze und kreuzt mitten in Bad Berneck die Bundesstraße 2. Dröhnende Lastwagen-Schlangen, dahinter zum Überholen lauernde Autos. Dann arbeiten wir uns mühsam den Galgenberg hinauf, durch das dortige Wohngebiet, südlich des historischen Bad Bernecker Stadtzentrums gelegen. Wie bei jedem Wohngebiet meldet sich in Peters Knien der Asphalt.
Das Abscheuliche der Jagd
Bei mir klingt das gestrige Erlebnis im Kainachtal noch immer nach. Irgendwie muss ich das noch verdauen. Peter erzählt mir, was er vor Kurzem auf der Heimfahrt von einem Dreh gesehen hat: Bei der Abernte eines Maisfeldes standen schon vier Jäger schussbereit an den Ecken des Ackers und warteten auf ihre sichere Beute. Denn die Maisfelder werden rechtwinklig von außen nach innen gemäht. Wildschweine, die sich im hochstehenden Mais versteckt haben, flüchten natürlich immer in die Mitte, so lange bis es nicht mehr geht und die letzte Reihe gemäht wird. Dann läuft das Wild vom Mähdrescher weg, will zurück in den Wald. Aber da stehen schon gierig die Jäger!
Dieses Gefühl, verarscht zu werden (welches noch ein harmloses Wort für ein eigentliches Verbrechen ist), Opfer einer lange im Voraus liegenden Berechnung zu sein, in die Falle gelaufen zu sein, sich in einer Reuse verfangen zu haben, und je mehr man sich wehrt, umso schlimmer wird es, dieses Gefühl von Ausweglosigkeit, Gefangenschaft, Wehrlosigkeit, Ohnmacht und Ausgeliefertsein. Der Missbrauch von Ahnungslosigkeit, dieses sich geile Weiden an der Unbewusstheit von Tieren und Kindern. Jegliche Art von Verrat ist unvorstellbar abgründig, deshalb so verstörend, weil er unverarbeitbar ist. Man findet keinen Ort, wo man solche Dateien ablegen könnte. Oder keinen sicheren Ordner, der für immer verschlossen bliebe und man sich nie mehr an das Furchtbare erinnern müsse. Opfern gelingt das nicht. Hingegen Tätern, den Spielchenspielern, schon. Menschen, die schlechtes Gewissen, Scham, Skrupel und Sorge gut verdrängen können, bedienen sich eben solcher sicherer Ordner. »Sicherer Ordner« heißt für sie: hier können alle störenden Gedanken erfolgreich abgelegt werden. Wie Banken ihre Schulden in einer »Bad Bank«. Ach Quatsch, noch perfider: Sie arbeiten sich erst gar nicht an mühseligem Verdrängen ab, sondern benutzen einfach den Empathie-Ausschalt-Knopf und antworten mit Grinsen.
Das Berechnende an der Jagd ist das, was mich anekelt. Die immer mitschwingende Verlogenheit. Wandert man mit offenen Augen durch die Landschaft, sieht man schon, wie Jagd funktioniert. Der Hochsitz steht so, dass er immer auch bequem mit dem Jeep zu erreichen ist. Gegenüber des Schießmöbels liegt immer eine Wiese, auf dem das Wild äsen kann, daneben liegt häufig, wie zufällig, auch eine (neu angelegte) Schonung, in der das Wild Leckerbissen in Form junger Nadelholztriebe findet und die gleichzeitig Deckung bietet. So äst hier das Wild – sich sicher wähnend. Dann knallt der Jäger das ahnungslose Tier ab und hat es so nicht weit, die erlegte, schwere Beute ins Auto zu schaffen.
Jagen ist auch kein zufälliges Jagdglück mehr. Dank Nachtsichtgeräten, Fotofallen oder Hightech-Gewehren, die schon mal 30 000 Euro kosten können. Jagen? Keine Kunst, kein Abenteuer, keine Arbeit. Beileibe nichts Unbequemes. So gar nichts Männliches. Ist Töten-Können denn männlich? Nein, Töten-Können verleiht, ohne Anstrengungen unternehmen zu müssen, Machtgefühle. Die wollen heute auch Frauen.
Die Bestände nachhaltig schützen? Mir haben Jäger bei Dreharbeiten selbst erzählt, dass Rehkitze vor dem Mähtod nur beschützt werden, damit man im Herbst genug Wild zum Abschuss hat. Das Wild im Winter füttern, damit es nicht verhungert? Klingt liebevoll. Gemeint ist, dass es am Leben bleibt, damit man es schießen kann. Aber warum darf ein harter Winter nicht selbst den Bestand des Wildes auf natürliche Weise reduzieren? Und wie Jäger ihre Hunde abrichten? Fragen Sie mal nach.
Und dann die gewalttätige Landwirtschaft
Bald schon erreichen wir die Höhe über Bad Berneck und wir blicken auf Felder mit reifem Mais. Es wird laut, Motorenlärm, rasende Agrarkampfmaschinen donnern an uns vorbei. Da sind gleich mehrere davon unterwegs. Hier wird im Akkord geerntet. Man versteht sein eigenes Wort nicht mehr. Ich muss Fidel in Sicherheit bringen. Auf so ein Tier nimmt hier niemand Rücksicht. Mein Groll des vergangenen Tages darf sich einfach nicht verziehen.
Am Rande dieses Wahnsinns wacht ohnmächtig Stationstafel 91.
Abendstimmung
Ich will aber jetzt […] noch eine Stunde hinauslaufen in die mit Blüten und Wellen gestickte Nacht, wo ein lauer Morgenwind sich düftetrunken aus Blütengipfeln auf gebogne Blumen herunterwirft und über Wiesen streicht und endlich auf eine Woge fliegt und auf ihr den schimmernden Bach herunterfährt. O draußen unter den Sternen, unter den Tönen der Nachtigall, die nicht am Echo, sondern an den fernen herabschimmernden Welten zurückzuschlagen scheinen, neben dem Monde, den der sprudelnde Bach am gestickten gewässerten Bande fortzieht und der unter die kleinen Schatten des Ufers wie unter Wolken einkriecht, o unter solchen Gestalten und Tönen wird der Mensch ernst, […]
Jean Paul »Quintus Fixlein«
Nach langer Dürre ein stiller Gewitterregen. Das saugende Auffassen der Bäume – der ruhige Fallton des Träufelns – unbewegliche Gipfelgärten – der halbhelle Abendhimmel – der Himmel senkt sich zur demütigen Erde – kein Sturm, kein Wind, kein Blitz – die Natur lauter Ohr und offen – keine Schwüle und keine Kühle – man möchte ein großer volllaubiger Baum sein – und wie alles doch der Abendröte entgegen arbeitet.
Ebene Gegenden deckt die Sonne mit einer auflösenden Ruhe, man braucht keine Phantasie, sie aufzufassen, sondern die ganze Zauberfläche drückt sich erwärmend an dein Herz an; du siehst in deine dunkle Phantasie, wenn du in die Gegend siehst: sie ist ein aufgebreitetes fernes Theater deiner Erinnerung. Denke etwas anderes, sobald dein Auge auf den mit Abend und Röte begossene Boden fällt, regt sich dein seufzender Busen wieder.
Schon donnert ein neuer Schlepper herbei, um die Mäh- und Dreschstaffel nahtlos fortzusetzen, ohne Pause, im Fluge, im Nu. Im Nu ist das Feld fertig, vor unseren Augen, ich drehe mich um und sehe, da steht nichts mehr! Und da kommt auch schon wieder der nächste und dann befahren sie zusammen das nebenanliegende Maisfeld. Ein Schlepper nach dem anderen rauscht an, der ganze Acker ist platt. In den Achtzigern kämpften wir noch für den Erhalt der »Bodenkrume«. Heute kennt niemand mehr das Wort. Für uns sieht es aus, als ob eine Lohnfirma das Feld bearbeitet und Billiglohn-Fahrer aus Osteuropa am Werk sind. Die machen es vielleicht besonders gnadenlos. Denen scheint alles egal. Soll ja auch egal sein. Alles ist egal.
Wie soll ich etwas Erquickendes finden? Selbst, wenn überhaupt noch etwas an diesen Wegrändern zu entdecken wäre, so würden Gewalt, Hetze, Ausbeutung und Lärm auch das zerstören.
Da schwinge ich mich mit dem lauen Morgenwind über die Blütengipfel hinauf und streiche düftetrunken mit ihm über die Wiesen, lande endlich auf einer kleinen schimmernden Woge des sprudelnden Baches, fahre mit ihr hinunter unter den Tönen der Nachtigall, krieche unter die kleinen Schatten des Ufers wie unter Wolken und schlafe bis es Abend will werden. Fern ist das Gelärm. Dann endlich ein stiller Gewitterregen, der ruhige Fallton des Träufelns, Gärten voller unbeweglicher Gipfel, kein Sturm, kein Wind, kein Blitz, die Natur ist nur Ohr und offen, und ich will auch ein großer volllaubiger Baum sein, hier und allda. Alles wird zur Zauberfläche und erwärmt mein Herz zu sehen, was es vor sich sieht: die Erinnerung an eine mögliche Welt. Dank Jean Paul durfte ich mich heute auf diese Reise träumen.
Aber unter solchen Gestalten und Tönen wie hier, stirbt für sich allein eine andere mögliche Welt, genannt Zukunft.
Nach eineinhalb Stunden Wanderung hört Peter zum ersten Mal einen Vogel singen, da ist es kurz einmal ganz still. Nur kurz. Aber auch die 16. Tafel »Landschaft zu Jean Pauls Zeiten« darf nicht in Ruhe sein. Wozu auch?
Bei guten Hauswirten
Der Lehrer von Jean Paul, Th. Helfrecht, hat das Fichtelgebirge um 1800 beschrieben. Es lässt Einblicke zu, wie sich die
Landschaft seit dieser Zeit verändert hat.
»Sowohl in diesem Tale als auch an anderen Plätzen sind die Bernecker und andere Gemeinden mit einem nachahmungswürdigen Beispiel vorangegangen. Sie haben Ödlandschaften und andere Gemeindeplätze, welche sonst nichts als schlechte Hute waren, zerschlagen und zu fruchtbaren Feldern umgeschaffen, die den Fleiß dieser guten Hauswirte mit jedem Jahre mehr belohnen mögen. Vielleicht können sie auch noch ihre dürren Rangen und Anhöhen fruchtbar machen, wenn sie den kleinen spanischen Klee oder Esparrette anbauen wollen, der auf dürren steinigen Hügeln vorkommt. Diese Art des Futters ist auf den Unteralpen sehr gemein und leistet gute Dienste, selbst zur Mästung des Schlachtviehs.«
Vielleicht wäre es im Juni stiller gewesen.
Über karge Höhen ziehen wir jetzt dahin, unter heiter spielenden Wolken. Dann und wann buddeln sie ein Loch in den Himmel und wir dürfen der Sonne huldigen, so wie Stationstafel 92.
Sonnen-Hymnus
Im Norden dämmerte die Sonne hinter den Orkaden – rechts nebelten die Küsten der Menschen – als ein stilles, weites Land der Seelen stand das leere Meer unter dem leeren Himmel – vielleicht streiften Schiffe wie Wasservögel über die Fläche, aber sie liefen zu klein und weiß unter dem Schleier der Ferne – Erhabene Wüstenei! über dir schlägt das Herz größer! – Auch du gehst fort, bleiche Sonne, und als ein weißer Engel
hinab ins stille Kloster der Eismauern des Pols und ziehest dein blühendes, auf den Wogen golden schwimmendes Brautgewand nach dir und hüllst dich ein! – Die Blasse im Rosenkleide! wo ist sie jetzt?
Wird sie in ein warmes, reges Auge schimmern zwischen den Eisfeldern? – Ich schaue herab auf den finstern Winter der Welt! Wie stumm und unendlich ists da unten! Das allgewaltige fortgestreckte Ungeheuer regt sich in tausend Gliedern und runzelt sich, und nichts bleibt groß vor ihm als sein Vater, der Himmel! – […]
Welcher Goldblick! Im Abendrot glüht Aurora an. Was reißet so schnell das schwarze Leichentuch vom Wasser-Orkus weg? – Wie brennen die Länder der Menschen wie goldne Morgen!
O kommst du schon wieder zu uns, du herrliche, liebe Sonne, so jung und rosenrot, und willst wieder freundlich hinziehen über den langen Tag und über die Gärten und Spiele der Menschen? – Glühe nur herauf, Unsterbliche! – Ich stehe noch kalt und bleich an meinem Horizont und gehe noch hinunter zu dem dunklen Eise; aber werd’ ich auch wie diese, o Gott, wärmer und heller aufgehen und wieder einen heitern Tag durchlaufen in deiner Ewigkeit? –
[…]
Endlich trat die Sonne wie ein Musengott in den Morgen
und nahm die Erde als ihr Saitenspiel in die Hand und griff in alle Saiten.
Jean Paul »Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch«
Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten
Nunmehr liegt auch die Leisauer Höhe hinter uns. Aber kaum, dass wir der Ackerdröhnung entkommen sind, empfängt uns schon langsam der Lärm von Goldkronach. Doch, wir dürfen auf etwas Schönes blicken. Dabei hilft uns dieses Mal die 17. Tafel »Landschaft zu Jean Pauls Zeiten«.
Das reizende Maintal
Der Lehrer von Jean Paul, Th. Helfrecht, hat das Fichtelgebirge um 1800 beschrieben. Es lässt Einblicke zu, wie sich die Landschaft seit dieser Zeit verändert hat.
»Die reizendsten Gegenden sind um Bernreuth das Maynthal innerhalb der Maynleithen, in welchem man von Berneck nach der Goldmühle gehet und die Au der Goldmühle selbst. Ein geschickter Landschaftsmaler würde hier und im Thale der Steinach bis nach Weidenberg reichen Stoff für seine Kunst bekommen.«
In der Ferne erblicke ich einen Hund-an-der-Schleppleine-Führer. Auch das noch, denke ich mir. Ich weiß schon, was das heißt. Da kommt jemand, der muss pausenlos demonstrieren, wie er seinen Hund unter Kontrolle hat. Einer, der in der Hundeschule war. Einer, der sich auskennt. Ich beobachte, wie er mit seinem Hund Gehorsamkeit trainiert, indem der Hund immer wieder Sitz machen muss und der Besitzer vor ihm mit der Hand herumfuchtelt.
Jetzt richtet der Mann einen festen Blick auf mich, der heißen soll, ich hätte meinen Hund sofort anzuleinen. Ich nehme an, er vermutet, dass der Kleine einer von der besonders verzogenen Sorte sei. Der Mann bleibt ostentativ stehen. Also gut, ich leine Fidel an, obwohl ich weiß, dass Fidel im Besonderen und Pudel im Allgemeinen sehr freundliche Wesen sind. Wenn Fidel einen aggressiven Hund wittert, macht er ganz kampflos – dabei immer leichtfüßig tänzelnd seinen Stolz bewahrend – einen großen Bogen um ihn.
Egal. Mit Fidel an der Leine laufen wir weiter, vorbei am Chow-Chow und seinem Herrchen. Dann leine ich Fidel wieder ab. Peter bleibt stehen, um etwas zu fotografieren. Plötzlich kommt der Schleppleinen-Führer zurück. Nun sehe ich nicht mehr ein, Fidel wieder brav anzuleinen. In ein paar Metern Abstand bleibt der Führer stehen, schweigend, abwartend, erwartend.
Ich frage ihn: »Gibt es ein Problem?«
Er sagt: »Bei mir nicht.«
Oh, Mann! Ich antworte nicht.
Dann fragt er weiter: »Wandern Sie da auf dem Jean-Paul-Weg?»
Ich: »Ja.«
»Da sind aber viele unterwegs!«, sagt er ziemlich unwirsch.
Ich kapiere nichts, denn wir sind nicht vielen begegnet, bis jetzt. Der Mann geht weiter, die Wiese hoch, und ich sehe noch, wie der arme Hund schon wieder Gehorsamkeitsübungen absolvieren muss.
Uns führt der Weg nun an einer Wochenendhauskolonie vorbei. Da denke ich mir, der Schleppleinen-Führer wohnt wohl hier und fühlt sich von jedem vorbeikommenden Wanderer gestört. So werden aus vielleicht nur Dreien plötzlich ganz viele. Wir beruhigen uns mit Stationstafel 93, die eine Bank bereithält und einen schönen Ausblick hat.
Geist der Zeit – Zeitgeist
Leicht und kühn zitiert ihr den Geist der Zeit, […] Da die Zeit in Zeiten zerspringt, wie der Regenbogen in fallende Tropfen: so gebt die Größe der Zeit an, von deren inwohnendem Geist ihr sprecht! Ist sein Zeitkörper ein Jahrhundert lange, und zwar nach welcher Zeitrechnung angefangen, nach jüdischer, türkischer, christlicher oder französischer? Entwischt nicht der Ausdruck »Geist des Jahrhunderts« dem Menschen leicht, weil er, in einem Jahrhundert geboren, eines mit seinem Leben zum Teil ausmessend, eigentlich unter der Zeit nichts meint als den kleinen Tagbogen, den die ewige Sonne von seinem Lebenmorgen bis zu seinem Abend umschreibt? – Oder streckt sich ein Zeitkörper von einer großen Begebenheit (z. B. der Reformation) bis zu einer zweiten großen aus, so daß sein Geist entflieht, sobald die zweite gebiert? Aber welche Umwälzung wird für euch zur zeit-beseelenden, eine philosophische oder sittliche oder poetische oder politische? –
Ferner: ist nicht jeder Zeitgeist weniger ein flüchtiger als ein fliehender, ja entflohener, den man lieber Geist der nächsten Vorzeit hieße? Denn seine Spuren setzen ja voraus, daß er eben gegangen, folglich weiter gegangen. Und nur auf Anhöhen kann zurückgelegter Weg beschauet werden, wie künftiger berechnet.
Aber da dieselbe Zeit einen anderen Geist heute entwickelt im Saturn – in seinen Trabanten – in seinen Ringen – auf allen zahllosen Welten der Gegenwart – und dann in London – Paris – Warschau;– und da folgt, daß dieselbe unausmeßbare Jetzo-Zeit Millionen verschiedene Zeit-Geister haben muß: so frag’ ich: wo erscheint euch denn der zitierte Zeitgeist deutlich, in Deutschland, Frankreich oder wo? Wie vorhin sein Zeitkörper, so wird euch jetzo sein Raumkörper schwer abzumessen fallen.
Jean Paul »Levana oder Erziehlehre«
Nun tut sich ein erster Blick auf Goldkronach auf. Nur einen Kirchturm sieht man, nein, es sind zwei und da hinten ein paar Dächer. Golden scheint die Sonne und macht daraus ein Idyll. Das Herz geht einem auf. Auf einem weichen Wiesenpfad wandern wir vergnügt hinunter ins Städtchen. Peter läuft mit Abstand voraus. Zwischen uns, immer hin und her laufend, Fidel. Ich denke, alles wird gut. Bestimmt.
Da schiebt sich Stationstafel 94 ins schöne Bild.
Früher war alles besser
Kein goldnes oder unschuldiges Zeitalter nannte sich ein goldenes, sondern erwartete bloß eines; und ein bleiernes erwartete ein arsenikalisches; bloß die Vergangenheit glänzt nach, wie die Schiffe zuweilen auf dem Meere hinter sich eine leuchtende Straße ziehen.
Es ist der Geist der Ewigkeit, der jeden Geist der Zeit richtet und überschauet. Und was sagt er über die jetzige? Sehr harte Worte. –
Aber eine seltsame, immer wiederkommende Erscheinung ists, daß jede Zeit einen neuen Lichtanbruch für Schadenfeuer der Sittlichkeit gehalten, […]
Jede hohe Klage und Träne über irgendeine Zeit sagt, wie eine Quelle auf einem Berge, einen höhern Berg oder Gipfel an.
Jean Paul »Levana oder Erziehlehre«
Die Reformatoren vergessen immer, daß man, um den Stundenzeiger zu rücken, bloß den Minutenzeiger zu drehen brauche, oft den Terzienzeiger (Sekundenzeiger).
Jean Paul »Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch«
Jetzt noch kurz durch ein Wäldchen. Hier findet Fidel ein paar Findelstücke, kleine Äste, mit denen er begeistert »Wegwerfen und Wiederfinden« spielt.
Unter den Findelstücken befand sich auch Stationstafel 95.
Lebensstufen
Sooft ich […] das Blut- und Trauergerüste der sieben Lebens-Stationen besah – sooft ich zuschauete, wie das gemalte Geschöpf, sich verlängernd und ausstreckend, die Ameisen-Pyramide aufklettert, drei Minuten droben sich umblickt und einkriechend auf der andern Seite niederfährt und abgekürzt umkugelt auf die um diese Schädelstätte liegende Vorwelt – und sooft ich vor das atmende Rosengesicht voll Frühlinge und voll Durst, einen Himmel auszutrinken, trete und bedenke, daß nicht Jahrtausende, sondern Jahrzehnte dieses Gesicht in das zusammengeronnene zerknüllte Gesicht voll überlebter Hoffnungen ausgedorret haben ....
Jean Paul »Schulmeisterlein Maria Wutz«
Im Erdenleben sind die Jahre kurz; die Lebensalter noch länger und das Leben am kürzesten; aber die Tage sind lang, die Stunden noch länger und die Minuten oft Ewigkeit.
Geh niemals ohne ein freundliches Wort, es könnte dein letztes sein.
Und, als ob der letzte Satz so dahingehörte, kommen wir zu der Pforte des Friedhofs von Goldkronach. Der Jean-Paul-Weg führt hindurch. Allerdings lesen wir am Tor, dass Hunde hier draußen bleiben müssen. Ich frage Fidel, was er davon hält, und er gibt zur Antwort: »Pudel sind keine Hunde.«
Und dann noch eine kleine jeanpaulische Weisheit über das Wesen »Mensch« auf Stationstafel 96 –
Der kleine Unterschied
Die Mädchen-Seelen sind schneller ausgereift als die Knabengeister.
Nach der altdeutschen Sitte auf dem Lande gehen auf dem Wege zur Kirche die Söhne hinter dem Vater, die Töchter aber vor der Mutter; wahrscheinlich weil man die letzten weniger aus den Augen zu lassen hat.
Hierher gehört noch die Bemerkung aus dem Tierreich, daß die Männchen den höchsten Mut und Kraftdrang in der Liebezeit, die Weibchen hingegen nach der Geburtzeit beweisen.
Die Männer lieben mehr Sachen, z. B. Wahrheiten, Güter, Länder; die Weiber mehr Personen; jene machen sogar leicht Personen zu dem, was sie lieben; so wie, was Wissenschaft für einen Mann ist, wieder leicht für eine Frau ein Mann wird, der Wissenschaft hat.
Schon als Kind liebt die Frau einen Vexier-Menschen, die Puppe, und arbeitet für diese; der Knabe hält sich ein Steckenpferd und eine Bleimiliz und arbeitet mit dieser.
Der Mann ist mehr zur sittlichen Stärke oder Ehre, das Weib mehr zur sittlichen Schönheit oder Liebe geboren und ausgerüstet.
Jean Paul »Levana oder Erziehlehre«
– und wir können uns der Einkehr am heutigen Etappenziel in Goldkronach widmen. Wir landen im Landgasthof »Goldene Krone«, im Zentrum des Städtchens. Es gibt hier durchgehend warme Küche, wir bestellen Bratwürste, die echt lecker sind, mehr können wir kaum berichten, es ist noch früh am Nachmittag, wir sind auch hier wieder die einzigen Gäste.
Dann sputen wir zur Bushaltestelle. Die Verbindung von Goldkronach nach Bad Berneck ist ordentlich, wir werden gut wegkommen. Nur ein paar Minuten sind noch zu warten.
An der Bushaltestelle spricht Fidel zu mir. Hierzu setzt er seine Vorderpfoten auf meine Oberschenkel und reckt und streckt sich mir so sehr entgegen, wie es ihm nur irgendwie möglich ist. Eine Geste, die Pudel sehr gerne zeigen.
Er stellt mir eine Frage: »Darf ich immer dabei sein? Ich meine, eigentlich, richtig immer?«
Ich antworte: »Ja, Fidel. Für immer.«
Die spätsommerliche oder frühherbstliche Sonne gießt für diesen Tag noch ein wenig warmes Licht über die abgemähten Felder. Ein kleiner Halm, der bei der Mahd übersehen wurde und nun weiter wachsen darf, winkt mir freudig, aber einsam, zu.
Der Jean-Paul-Weblog ist werbefrei und soll es auch bleiben. Der Betrieb ist jedoch mit Aufwand und Kosten verbunden. Deshalb würde ich mich sehr über Ihre Spende freuen. Sei sie auch noch so klein. Sie dient ausschließlich dem zukünftigen Erhalt der Webseite. Und Jean Paul kann weiterhin alle begleiten, die auf seinen Wegen wandern. Herzlichsten Dank.
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Michael Petzold (Samstag, 21 Januar 2017 18:57)
Hallo.
Im Jahr 2013 Anfang Mai bin ich mit einer Gruppe der VHS Hof die beiden ersten Etappen des Weges von Hof nach Joditz und von Hof nach Schwarzenbach gewandert. Wanderführer war der Michael Stumpf der im Landkreis Hof den öffentlichen Nahverkehr organisiert und den Jean Paul Weg mit entwickelt hat. Ich habe dann 2014 ihre Wegbeschreibung gefunden. Damals ging es darin nur bis zum
Waldstein. Es freut mich das Sie jetzt bis nach Goldkronach weiter geschrieben haben. Das Sie Fidel vor ein paar Tagen einschläfern lassen mussten tut mir leid. Ich hatte 2005 mit meinem Dackel das gleiche durch machen müssen. Vielleicht finde ich Mal Zeit und Gleichgesinnte und wandere noch ein
paar Etappen.
Susanne (Donnerstag, 22 August 2019 19:57)
Ich wandere schon seit drei Jahren ( mit Unterbrechungen�)mit meiner Freundin auf dem Jean Paul Weg. Wir sind total begeistert und freuen uns auf jeder Etappe über diese wundervolle Landschaft und Natur. Begegnet sind wir fast keinen anderen Wanderern.
Hilde Zielinski (Dienstag, 08 September 2020 18:48)
Lieber Herr Petzold,
leider antworte ich Ihnen erst jetzt. Verzeihen Sie mir.
Ich habe mich sehr über Ihre Nachricht gefreut. Es tut mir leid um ihren Dackel. Ich weiß, es schmerzt lange.
Nun bin ich fertig mit der Jean-Paul-Webseite, sie führt bis zum Ende. Und natürlich soll die Seite weiterleben, ich arbeite ständig an ihr.
Wandern Sie immer nur ein bisschen weiter auf Jean Pauls Wegen, es tut gut!
Hilde Zielinski (Dienstag, 08 September 2020 18:57)
Liebe Susanne,
Meine Antwort kommt leider spät. Verzeihen Sie mir.
Ich habe mich sehr über Ihren Kommentar gefreut. Menschen wandern und lieben den Jean-Paul-Weg! Das ist wunderbar. Vielleicht wird das mit den menschlichen Begegnungen zahlreicher, nach und nach, ich hoffe es sehr.