Bad Berneck – Entenmühle
Den kompletten Verlauf des Jean-Paul-Wegs finden Sie hier: Literaturportal Bayern
Zwischeneintrag vom Mittwoch, den 4.1.2017
Jetzt, wo ich nach den Feiertagen, am 4. Januar 2017, langsam weiterschreibe, liegt Fidel in seinem Korb unter meinem Schreibtisch. Draußen schneit es still weiche, dicke Flocken.
Zurzeit gibt es für uns nur ein Thema: ein sanftes Sterben für Fidel. Er besteht nur noch aus Haut und Knochen. Aber den ganzen Tag und die ganzen Nächte schläft er friedlich und ruhig atmend. Er kann noch stehen, um sein Geschäft zu machen, mehr nicht. Seine Lymphknoten sind geschwollen, aber nicht tastempfindlich. Vermutlich ist er schwer krank, vielleicht Krebs, aber wir werden ihn nicht mehr mit Therapien quälen. Er darf gehen.
So ruhig liegt er da. Ach, wenn er einfach für immer einschlafen würde. Kein letzter Stress für den kleinen, tapferen Engel. Hier, in der Tierklinik Gera, gibt es einen Notdienst, falls Fidel doch Schmerzen erleiden sollte. So viel haben wir herausgefunden.
Es schneite, als Fidel in unser Leben kam. Jetzt, sieben Jahre später, zum Abschied schneit es wieder. Alles um uns ist so zart, wie er so zart daliegt und so zart atmet. Ja, er ist nur ein Tier. Nein, er ist ein Wesen, wie wir alle es sind und uns das Dasein teilen. Ein jedes Atom ist gleich wichtig. Alles gehört zusammen, alle brauchen einander, hier und gestern, morgen und überall. Wie kann man sich da lustig machen?
Ich schalte jetzt die Lichterketten ein. Die Vermieterin, die mit uns im Haus wohnt, hat uns eine Flasche Rotkäppchen Sekt zum Neuen Jahr vorbei gebracht. Eine Tradition des Hauses, wie sie dazu sagt. Wir freuen uns sehr. Heute gibt es Spinat mit Lachs und Kartoffeln und darüber die Kerne eines Granatapfels gestreut. Den schlafenden Fidel trage ich, in seinem Körbchen liegend, ins Esszimmer. Er will doch immer bei uns sein …
Weiter mit der eigentlichen Etappe
Freitag, 24. August 2012. Die heutige Etappe führt uns eigentlich von der Entenmühle bis nach Bad Berneck. Aber wir laufen sie rückwärts, von Bad Berneck bis zur Entenmühle, nur damit wir zum Schluss in der Entenmühle speisen können. Bier, Kloß und Schäufele, die uns bis jetzt einzig bewusste Mitte unseres Labyrinths, die es doch auch zu finden gilt.
Der Weg schlängelt sich entlang des Wildbaches Ölschnitz. Ich finde, er wäre auch ohne »Jean-Paul-Weg« ein hübscher Ausflug für einen Sonntag: in Bad Berneck parken, zum Gasthof Entenmühle laufen, in der Entenmühle Sonntagsbräten essen und dann wieder zurück. Herrliche zwölf Kilometer zum Wandern mit Bach und Wald.
Das Städtchen Bad Berneck kennen wir bereits. Es ist ein Kneippheilbad und Luftkurort und gehört schon zum Landkreis Bayreuth. Will man von Bayreuth aus ins Fichtelgebirge fahren, streift man Bad Berneck. Durch den Ort hindurch fährt man dabei seltener. Von der Bundesstraße aus sieht man, wie bei so vielen Orten in dieser Region, dass auch dieser mit Strukturproblemen zu kämpfen hat. Abwanderung in die Städte, Zerfall von Industrie und Wirtschaft, Leerstand von Häusern und Läden. All das erscheint immer etwas unwirtlich.
Fährt man allerdings in den Stadtkern hinein, sind der alte Marktplatz, der Kurpark mit seinen zwei historischen Kolonnaden und der kleinen Kneippanlage, die wildromantische Burgruine mit dazugehörender Freilichtbühne, alles eingerahmt von den umliegenden sieben Hügeln, wirklich lieblich anzuschauen.
Bad Berneck ist eine Reise in eine romantische Welt ...
… Erleben Sie hier einen der Ursprungsorte der deutschen Romantik, den Arbeitsplatz des jungen Alexander von Humboldt, die Welt Jean Pauls: ein kleines Städtchen im Fichtelgebirge nahe dem berühmten Bayreuth der Markgräfin Wilhelmine und Richard Wagners. … So steht es auf der privaten Webseite www.jean-paul-bad-berneck.de des 2. Bürgermeisters von Bad Berneck, Alexander Popp. Hierin schreibt er viel über Literatur, kulturelle Veranstaltungen und über die Jean-Paul-Tage im historischen Städtchen.
Wir parken auf einem Parkplatz in der Nähe des Kurparks. Leider muss man bezahlen und kann nur für zwei Stunden Parkdauer Münzen einwerfen. Wir tun es und wissen, dass wir die Parkzeit überschreiten werden. Mal sehen, was passiert …
Hier entdecken wir gleich Stationstafel 90, die zwischen den parkenden Autos etwas unlyrisch platziert wurde.
Bernecker Pfefferkuchen
Mein guter Emanuel! Schon seit 3 Monaten sitz’ ich an meinem Schreibtische ohne einen Bissen Bernecker Pfefferkuchen; denn eine Maus in meinem Koffer hatte allen Vorrath, um ihn gut auszukernen, fein zersiebt. Ihnen vertrau’ ich nun nicht gern auf Ihrer Reise durch Berneck Geld für Pfefferkuchen an, weil ich befürchte, daß Sie es dort unterschlagen und mir wieder bringen. Meinen Max aber vertrau’ ich Ihnen lieber an, der morgen mit Ihnen bis Berneck fahren und dann mit vollen Taschen zu Fuße wieder hieher gehen könnte. Glückliche Wiederkunft, Guter!
Jean Paul an Emanuel Osmund, 22. September 1820
Da der Doktor neben dem Edelmanne auf ihre Ankunft wartete: so ließ er noch ein Werk der Liebe durch Flex ausüben, seinen Bedienten. Er griff nämlich unter seine Weste hinein und zog einen mit Branntwein getränkten Pfefferkuchen hervor, den er bisher als ein Magen-Schild zum bessern Verdauen auf der Herzgrube getragen: »Flex,« sagte er, »hier bringe mein Stärkmittel drüben den untern Gerberskindern; sie sollen sich aber redlich darein teilen.«
Jean Paul »Dr. Katzenbergers Badereise; nebst einer Auswahl verbesserter Werkchen«
Der Weg führt uns entlang der Ölschnitz in Richtung Kurpark, der am Rande des Städtchens liegt. Am Eingang des Parks ist das Hotel »Lindenmühle« zu finden. Als Tagungsort gibt es hier einen Jean-Paul-Saal, so lesen wir auf der Hotelhauswand.
Vor dem Hotel begrüßt uns Stationstafel 88.
Bad Berneck
In Berneck übernachteten sie zwischen den hohen Brückenpfeilern von Bergen, zwischen welchen sonst die Meere schossen, die unsere Kugel mit Gefilden überzogen haben. Die Zeit und die Natur ruhten groß und allmächtig nebeneinander auf den Grenzen ihrer zwei Reiche – zwischen steilen, hohen Gedächtnissäulen der Schöpfung, zwischen festen Bergen zerbröckelten die leeren Bergschlösser, und um runde grünende Hügel lagen Felsen-Barren und Stein-Schollen, gleichsam die zerschlagenen Gesetztafeln der ersten Erdenbildung.
Jean Paul »Siebenkäs«
Freilich würden Durchlaucht in Berneck, dem Vorhofe und Vorhimmel des Baireuther Himmels, mehr vom letzten finden.
Jean Paul »Der Komet oder Nikolaus Marggraf«
Wir suchen ein bisschen nach den richtigen Jean-Paul-Weg-Wegweisern, denn es gibt hier verschiedene. Wo geht es jetzt weiter? Die einen führen unten durch den Kurpark an der Ölschnitz entlang, die anderen über einen steilen Weg nach oben. Jedoch sehen wir schon von hier aus, dass oben rot-weiße Bänder flattern. Ist er gesperrt? Ratlosigkeit. Da lesen wir erst einmal die 15. Tafel »Landschaft zu Jean Pauls Zeiten«.
Große Mannichfaltigkeit Felsen, Blumen, Kräuter
Der Lehrer von Jean Paul, Th. Helfrecht, hat das Fichtelgebirge um 1800 beschrieben. Es lässt Einblicke zu, wie sich die
Landschaft seit dieser Zeit verändert hat.
»Die Berge selbst haben viele Mannichfaltigkeit: teils sind sie kahl und steinicht, teils zeigen sie grüne Plätze mit duftenden Kräutern und bunten Blumen, teils sind sie so grotesk und rau, mit struppichten dunkelgrünen Nadelholze, teils mit hell-grünem Laubholze angenehm bekleidet. Berge von seltsamen Figuren zum Teil mit hereinhängenden Felsen welche zumal von der Kirchleiten die Häuser zu zerschmettern drohen.«
Aufschluss über den Jean-Paul-Weg-Schilder-Wirrwarr gibt mir eine pdf-Datei aus der Webseite www.jeanpaul-oberfranken.de. (Heute funktioniert der Link nicht mehr.) Ja, jetzt lese ich es: In Bad Berneck hat man auch einen Jean-Paul-Rundweg geschaffen. Die dazugehörige Wegetafel im Ort hatten wir wohl völlig übersehen. Jener Rundweg teilt sich nämlich in einen Tal- und einen Bergweg. Damals wählten wir den nach oben führenden – den durch das Tal kannten wir ja schon.
Dann, oberhalb des Kurparks, begegnen wir zunächst der alten Kolonnade.
Gleich hinter ihr geht es steil bergan. Jetzt merken wir, warum der Bergweg vielleicht gesperrt wurde. Er ist ziemlich zugewachsen. Brennnesseln schlagen gegen meine nackten Beine, lose Steine kullern hinunter, Brombeerhecken machen sich breit. Wir klettern und klettern, und es wird immer noch steiler. Dann sind wir endlich oben und von hier aus entfaltet sich eine erste große Aussicht auf Bad Berneck. Man sieht nun, wie das Städtchen zwischen den sieben Hügeln träumt.
Hier oben winkt uns, einladend mit Ruhebank und Prachtblick ausstaffiert, Stationstafel 85, obwohl Stationstafel 87 an der Reihe wäre.
Ich-Geburt
Erwägt zuerst die Sittlichkeit! Der innere Mensch wird, wie der Neger, weiß geboren, und vom Leben zum schwarzen gefärbt. Wenn in den alten
Jahren die größten Beispiele moralischer Momente vor uns vorübergehen, ohne unser Leben mehr aus seiner Bahn zu rücken als ein vorbeifliegender Bartstern die Erde: so wirft im tiefen Stande der
Kindheit der erste innerliche oder äußerliche Gegenstand der Liebe, der
Ungerechtigkeit u. s. w. Schatten oder Licht unabsehlich in die Jahre hinein; und wie nach den ältern Theologen nur die erste Sünde Adams, nicht seine andern Sünden auf uns forterbten, da wir mit
einem Falle
schon jeden andern Fall nachtaten: so bewegt der erste Fall und der erste Flug das ganze lange Leben. Denn in dieser Frühe tut der Unendliche das zweite Wunder; Beleben war das erste. Es wird
nämlich von der menschlichen Natur der Gottmensch empfangen und geboren; so nenne man kühn jenes Selberbewußtsein, wodurch zuerst ein Ich erscheint, ein Gewissen und ein Gott – und unselig ist
die Stunde, wo diese Menschwerdung keine unbefleckte Empfängnis findet, sondern wo in derselben Geburtminute der Heiland und sein Judas zusammentreffen. Man hat auf diese einzige Zeit, auf
die Umgebungen und Früchte derselben
noch zu wenig gemerkt. Es gibt Menschen, die sich tief bis an die Grenzstunde hinein besinnen, wo ihnen zum erstenmal das Ich plötzlich aus dem Gewölke wie eine Sonne vorbrach und wunderbar eine
bestrahlte
Welt aufdeckte. Das Leben, besonders das sittliche, hat Flug, dann Sprung, dann Schritt, endlich Stand; jedes Jahr läßt sich der Mensch weniger bekehren, und einem bösen Sechziger dient weniger
ein Missionär als ein Autodafé (Inquisitionsurteil und dessen Vollstreckung).
Jean Paul »Levana oder Erziehlehre«
Fidel springt neugierg auf die Bank, um besser sehen zu können, was ich da lese, und gleich wieder mit seinem großen heiteren Ich von der Bank und hüpft weiter durch unser aller Leben, vom Ich zum Du, vom Du zum Ich und wieder zurück. Fidel kann das.
Jean Pauls großes »Ich und Du« wartet hier oben auf seinem eigenen Platz, dem Jean-Paul-Platz, wie es auf der Karte heißt. Ein paar Meter weiter, erkennen wir einen Pavillon. Ist das der angekündigte Jean-Paul-Platz?
Nein, offensichtlich nicht. Es ist der Ludwig-Richter-Pavillon, so lesen wir. Ludwig Richter war nicht mit Johann (Jean) Paul Friedrich Richter verwandt. Ludwig Richter (1803‒1884) war ein bedeutender Maler und Zeichner der Spätromantik und des Biedermeiers. Die Burgruine mit Blick auf die Kirche von Bad Berneck gehörte auch zu seinen Motiven. Unter diesem Link zum Zentralen Verzeichnis Antiquarischer Bücher kann man das Bild sehen. In der Etappe 27 findet man auch einen Stahlstich von Ludwig Richter.
Am Pavillon ist ein kleines, handgeschriebenes Schild befestigt: »Jean-Paul-Platz – 50 m«. Es weist zu einem Trampelpfad. Gespannt folgen wir ihm durch Gehölz und über querliegende Äste, und tatsächlich finden wir, versteckt unter einem ganz mit Moos bemäntelten Felsen, Jean Pauls Platz, mit einer alten, morschen Bank, ein wenig still und wie verlassen. Wenn man es freundlich formulieren würde, würde man sagen, die Bank sei historisch und Jean Paul habe selbst darauf gesessen.
Leider gibt es hier nur eine schöne Aussicht auf Baumkronen. Ist alles zusammengewachsen im Laufe der Zeit. Aber – so wird mittendrin auch Stationstafel 86 fortleben, umarmt und festgehalten von den alten, starken, reich verästelten Armen der nunmehr vielen Bäume ringsum.
Ich und Du
Ich ist – Gott ausgenommen, dieses Ur-Ich und Ur-Du zugleich – das Höchste so wie Unbegreiflichste, was die Sprache ausspricht und wir anschauen. Es ist da auf einmal, wie das ganze Reich der Wahrheit und des Gewissens, das ohne Ich nichts ist. Wir müssen dasselbe Gott, so wie den bewußtlosen Wesen zuschreiben, wenn wir das Sein des einen, das Dasein der andern denken wollen.
Jean Paul »Levana oder Erziehlehre«
[…] und ich schätze den Vorteil so hoch, als er wert ist, den die Ehe hat, daß der Ehemann durch sie noch ein zweites Ich bekommt, vor welchem er sich ohne Bedenken recht herzlich loben kann.
Jean Paul »Schulmeisterlein Maria Wutz«
Kein Mensch wird der bloße Widerschein seiner Verhältnisse, denn er ist sein eigenes Licht, sein eigener Schein.
Mein Bruder, Du bist wie ich und leidest wie ich, und wir können uns lieben.
Wenn
überhaupt jeder Mensch heimlich seine eigne Kopiermaschine ist, die er an andere ansetzt, und wenn er gern alles in seine geistliche und geistige Verwandtschaft als Seelen-Vettern hineinzieht,
[…]
Jean Paul »Levana oder Erziehlehre«
Wobei ich es eher am allerliebsten hätte, dass Fidel mehr in mir sei, als ich in ihm, denn sein Gemüt ist so unendlich heiter und großzügig. Nun denn, seien wir hier jetzt zu viert. Jean Paul, Fidel, Peter und ich. Ganz da, so weit gelaufen, so viel erfahren. Ich hoffe, dass sich nun alles munter verdoppeln möge und wir nicht mehr einsam sein müssen.
Nach einem Erfrischungspäuschen geht es weiter. Ein Zickzackpfad führt uns steil bergab zurück ins Ölschnitztal.
Hier wartet Stationstafel 87, die jetzt eigentlich Stationstafel 85 wäre.
Doppel(t)gänger
So heißen Leute, die sich selber sehen.
Der Mensch ist nie allein, das Selbstbewußtsein macht, daß immer zwei Ichs in der Stube sind.
War nicht Peter sein bester und tollster Freund, und war nicht dieser ihm als seinem Pole, wie einem Magneten, als ein Gegenpol eingeboren und eingeschmolzen?
Jeder Mensch wird als Zwilling geboren: als der, der er ist, und als der, für den er sich hält.
Der Dichter setzt sich an die Stelle der fremden Seele. Der Schauspieler setzt die fremde an die Stelle der seinigen und entsinnt sich dann von der eigenen kein Wort mehr.
Rechte gewöhnliche und befriedigende Unterhaltung ist allgemein unter den Menschen die, daß einer das sagt, was der andere schon weiß, worauf aber dieser etwas versetzt, was jener auch weiß, sodaß sich jeder zweimal hört, gleichsam ein geistiger Doppelgänger.
An dieser Stelle sei bemerkt, dass Jean Paul auch das Wort »Doppelgänger« erfunden hat.
Fidels Tod
Gestern, am Donnerstag, den 12. Januar 2017, ist Fidel friedlich gestorben.
In der Nacht zuvor hat Fidel nur noch unter sich »machen« können. Seit zwei Tagen hatte er auch nichts mehr gegessen und trinken war ganz mühsam. Am Donnerstagmorgen spürten wir alle drei irgendwie, dass es jetzt so weit war. Für diesen Fall hatten wir schon Kontakt mit unserer langjährigen und sehr vertrauten Tierärztin aus Hummeltal aufgenommen. Sie sagte, es wäre kein Problem, Fidel auch im Auto von seinem Leiden zu erlösen, damit er nicht mehr in die Praxis, keinen Stress mehr haben – und vor allem keine intravenöse Verabreichung über sich ergehen lassen müsse.
Also legten wir Fidel, warm eingepackt, in sein Körbchen, trugen ihn damit ins Auto, stellten das Bettchen auf die Rücksitzbank und ich setzte mich neben ihn. So schnurrten wir die 160 Kilometer durch die Schneelandschaft, wohlig und still, gen Süden, vorbei am Fichtelgebirge und vorbei an Bayreuth. In Hummeltal, auf dem Parkplatz vor der Praxis, gesellte sich ein wenig Glockengeläut zu uns. Dann kam die Tierärztin und begrüßte Fidel, so zugewandt.
»Das ist ja gar nicht mehr mein Fidel, wie ich ihn kenne«, sagte sie und strich ihm über den Rücken, »gar nicht mehr.«
Fidel bewegte sein Köpfchen, schmiegte sich in sein Kissen und schmatzte ein wenig, wie er es immer gerne tat. Mir schossen Tränen in die Augen.
»Ich hatte so sehr gehofft, er würde so sterben, vielleicht über Nacht, zuhause. Aber er kämpft tapfer. Er gibt einfach nicht auf«, sagte ich, »aber ich glaube, jetzt ist es besser so.«
Noch einmal erklärte sie uns genau, was sie tun wird. Zuerst bekommt Fidel zum Narkotisieren eine Spritze mit hoch dosiertem Morphium in den Oberschenkel, dann erst wird die letzte und tödliche Spritze ins Herz gesetzt. Bei der ersten Spritze machte Fidel keinen Muckser, den Pikser hatte er nicht einmal gemerkt. Dann mussten wir noch zehn Minuten warten, bis die Narkose vollständig gewirkt hat. Ich streichelte sein zartrosa Bäuchlein und hoffte, dass die letzte Spritze ins Herz ihn nicht sticht, nicht ihn, nicht mich, nicht Peter, nicht in unsere Erinnerung.
Wir hatten uns vorher schon versichert, dass die Tierärztin nicht mit T61 einschläfert. Das ist eine Art billiges Betäubungsmittel, das auch für Hinrichtungen verwendet wird, über das Ärzte keine Listen führen müssen, das aber hier und da schon einmal beim Patienten im Todeskampf Krämpfe und Zuckungen hervorruft. Genau das hatte ich schon bei zwei meiner Katzen erlebt. Damals wusste ich noch nichts darüber. Jetzt wollte ich so etwas auf keinen Fall wieder erleben. Das vergisst man nämlich nicht.
Nach zehn Minuten kam die Tierärztin zurück und versicherte uns noch einmal, dass sie sehr viel Erfahrung hat. Dann setzte sie behutsam die letzte Spritze. Und diese letzte Spritze ins Herz war Gott sei Dank ganz sanft, Fidel hat nur geschlafen, nicht einmal gezuckt, nichts, so sage ich das mal. Und dann hat sein Herzchen aufgehört zu schlagen. Die Welt um einen herum steht ein bisschen still dann. Da hinten läuft eine Oma mit ihren kleinen Enkelkind, eine Frau mit Katzenkorb huscht vorbei, Tautropfen fallen, Krähen flattern.
»Mein Fidelchen, adieu. Wir sehen uns auf der großen Sommerwiese.«
Dann schnurren wir zurück. Fidel und ich immer noch auf der Rücksitzbank, meine Hand an seinem Bauch. Peter, unser tapferer Ritter, schifft uns schluchzend und sicher durch die leise Dämmerung über die Autobahn. Im Fichtelgebirge leuchten Lichter, weit hinten zwischen den weißen Berghängen. Leise rieselt jetzt Schnee im sanften Nebel, noch immer weihnachtlich überall und die Himmel so voller Engel.
Jetzt, wo ich dieses schreibe, liegt Fidel ein letztes Mal friedlich zu meinen Füßen. Gleich werden wir ihn in ein Kartönchen betten. Ihm ein Briefchen mitgeben an »Fidel Bum, liebevoll genannt Kabuffti«, seine letzte Hundpost. Wir wollen sichergehen, dass sie ankommt jenseits der ostindischen Gewässer, damit wir uns dort wiedersehen können.
Morgen werden wir ihn in unserem Garten begraben. Im Sommer dann, sollen Nachtviolen über ihm blühen und in lauen Sommernächten Fidel mit ihrem Duft in unsere Seelen reisen.
Die Tierärztin in Hummeltal heißt übrigens Dr. med.vet. Michaela Sonnewald-Daum. Die beste von allen.
Wieder weiter mit der Etappe …
Wir gehen Jean Pauls Weg weiter und werden von nun an in unserem Herzen immerzu einen Doppel(t)gänger von Fidel suchen. Etwas, das uns an ihn erinnert. Da ist doch so viel. Alles erinnert.
Es geht leicht bergauf, wieder weg von der Ölschnitz, und wir streifen rechts eine Burg, die wegabgewandt über einem Ölschnitzmäander thront: Schloss Stein. Vom Weg aus sieht man sie kaum. Außen herum lagern landwirtschaftliche Gerätschaften und eine Menge Dixi-Toiletten.
Wie es hier einmal wirklich aussah, erklärt uns die 14. Tafel »Landschaft zu Jean Pauls Zeiten«.
Weidehänge um das Schloss Stein
Der Lehrer von Jean Paul, Th. Helfrecht, hat das Fichtelgebirge um 1800 beschrieben. Es lässt Einblicke zu, wie sich die
Landschaft seit dieser Zeit verändert hat.
Durch die Viehweide und auch aus strategischen Gründen waren die Hänge des Tales ohne nennenswerten Gehölzbestand. Wie in der Fränkischen Schweiz waren die Hänge mit dem Weideunkraut Wacholder bestanden. Heute sind Wacholder im Fichtelgebirge sehr selten.
Schloss Stein gehört zum Ort Stein, der wiederum ein Ortsteil der nahe gelegenen Stadt Gefrees ist. Das Hauptgebäude des ehemaligen Schloss Stein – eigentlich ist es eine Burg auf einem Felsen – wurde zur Kapelle St. Michael umgebaut. Bei »Stein« handelt es sich um die nachweislich älteste Felsenburg und Walpoten-Siedlung im Fichtelgebirge. Sie ist geschichtsträchtig und liegt wie ein Kleinod über dem Ölschnitztal. Hier werden auch kulturelle Veranstaltungen organisiert. Mehr kann man bei dem Verein Freunde der Burgkapelle e.V. erfahren.
Wieder geht es hinunter ins moosig grüne Tal des Wildbaches. Sein Plätschern begleitet uns ständig. Die Ölschnitz war im 18. und 19. Jahrhundert auch bekannt für ihre Flussperlmuscheln. Zwischen 1732 und 1810 fand man an die 6 000 Perlen. Da, wo heute Flussperlmuscheln gedeihen, ist die Natur gesund.
Erste Birkenblätter fallen silberschillernd. Der Herbst zeigt sich schüchtern. Im dunklen Tannenwald duftet es noch nach dem vorgestrigen Gewitterregen und schon nach ersten Pilzen.
Und auch Stationstafel 84 wächst und gedeiht am Wegesrand.
Garten des Lebens
Sogar dem Leser kann der mit lauter Distelköpfen eingefaßte Weg zum Andreastage nicht länger vorkommen als meinem Helden, der noch dazu die Distelköpfe insgesamt anfassen und ausreißen mußte; sein Garten des Lebens glich immer mehr einem guten englischen, worin nur stachlichte und leere, aber keine Obstbäume gelitten werden.
An deinem Lebenflüsschen steht, wenn es auch zu einem Perlenbach wird, immer eine Galgen- und eine Warntafel!
Aber wie der Baum (nach Bonnet) so gut in die Luft oder den Himmel gepflanzt ist als in die Erde und sich aus beiden nährt: so der rechte Mensch überhaupt; und so lebte Firmian noch mehr künftig als bisher nur mit wenigen Wurzelästen seines Selbst in der sichtbaren Erde; der ganze Baum mit Zweigen und Gipfel stand im Freien und sog mit seinen Blüten an der Himmelluft; wo ihn eine bloß unsichtbare Freundin und ein unsichtbarer Freund erquicken sollten.
Jean Paul »Siebenkäs – Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten Firmian Stanislaus Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel«, kurz »Siebenkäs«. Ein Eheroman.
Das Erfreulichste und Zauberische, auf das ich ewig und sehnsüchtig zurückschaue, ist meine Jugendzeit, aber nicht meine äußere, die kahlste, die je Jünglinge ertragen, sondern auf meine innere, welche unter dem hohen Schnee der äußern Lage ihre Blumen und Blüten und den ganzen Frühling trieb. Jetzo ist der Schnee fort, aber der Lenz auch.
»Wahrheit aus Jean Pauls Leben«
Unter vielen Bäumen wandern wir, wie beschützt, weiter. Das Tal öffnet sich, neben uns nun Weidewiesen im sattesten Grün.
Fast wie im Mai jetzt, Stationstafel 83.
Im Mai
Tönte nicht der künftige Frühling schon von weitem über einen ganzen Winter herüber im Abendgeläute des Weide-Viehes, im Wildrufe der Waldvögel und in den ungehemmten Bächen, die in den künftigen Blumen-Überhang hinein flossen? – Und als eine zuckende Puppe neben ihm noch in der halben eingerunzelten Raupenhülse hing und ihren Blütenkelchen entgegenschlief – und als das Seelenauge der Phantasie von den Grummethaufen in die Abendpracht des Heumonats hinüberblickte – und als jeder vielfarbige Baum gleichsam zum zweiten Male blühte – und als die bunten Gipfel wie vergrößerte Tulpen einen Regenbogen auf den Duft des Herbstes zogen: – so jagten nun nur frühere Mailüfte dem flatternden Laube nach und wehten unsern Freund mit hebenden Wogen an und stiegen mit ihm auf und hielten ihn empor über den Herbst und über die Berge und er konnte über die Berge und Länder wegschauen und siehe, er sah alle Frühlinge seines Lebens, die für ihn noch in Knospen lagen, wie Gärten nebeneinander stehen und in jedem Frühlinge stand sein Freund! –
Jean Paul »Siebenkäs«
… und in jedem Frühlinge stand sein Freund! … Was für ein Bild!
Kurz bevor wir die Entenmühle erreichen, dürfen wir noch über den Zaun in einen bunten Bauerngarten schauen. In ihm steht eine Oma, in blau gemusterter Kittelschürze, gebückt unter dem Apfelbaum und klaubt Äpfel aus dem Gras. Bei ihr ist das Obst, das auf die Wiese gefallen ist, immer noch gut für einen Kuchen. Die Oma hat so ein lustiges Gesicht. Ich wünschte, sie wäre meine – unsichtbare Freundin.
Dann ab in die Entenmühle. Dort gibt es durchgehend warme Küche. Also brauchen wir keine Angst zu haben, mit leerem Magen wieder abziehen zu müssen. Na dann, guten Appetit und Prost!
Heute müssen wir wieder den einen Kilometer bergauf nach Lützenreuth zur Bushaltestelle laufen. Wenn man weiß, was auf einen zukommt, kann man es besser aushalten, finde ich. Der Berg ist heute also irgendwie nicht so dolle.
Wir warten nur kurz, dann kommt schon der Bus. Gott sei Dank sind wir dieses Mal nicht die einzigen Fahrgäste. Ganz hinten auf der Rückbank sitzt eine Frau. Der Busfahrer scheint aus Hof zu kommen. Während der Pause an der Haltestelle telefoniert er, anscheinend privat: »Ho … ho … der Ding, der … der kann doch des mochn … ho … ho!»
»Ho«, gesprochen mit einem offenen »o«, sagen die Hofer immerzu und meinen damit »Ja«. Von Weitem hört sich das an wie bellende Hunde.
Dann, ein neuer Anruf für den Busfahrer. Die Nachricht gibt er gleich weiter:
»Obacht! Es gibt ein Problem! Die B2 vor Bad Berneck ist gesperrt.«
Wir fragen: »Wie gesperrt? Wie geht es dann für uns weiter?«
Der Busfahrer hat auch keine Lösung, dann doch eine Idee:
»Fragen Sie mal die Frau da hinten, die muss auch nach Berneck, vielleicht können sie ja zusammen ein Taxi nehmen? Ho.«
Wir kommen mit der Frau nur kurz ins Gespräch, denn wieder ruft der Busfahrer nach hinten:
»Die ist schon seit zwölf Uhr gesperrt, voll gesperrt. Ho. War wohl ein Viehtransporter. Da laufen überall Schweine rum!«
Bin ich jetzt froh, dass ich das nicht miterleben muss. Die Bilder von schreienden und blutenden Schweinen bekäme ich nie wieder aus dem Kopf. Dann meint die Fahrgästin laut nach vorne:
»Sie könnten doch vielleicht einen Umweg fahren, eine Umgehung. Dann kommen wir zwar später an, aber ist doch egal.«
Dann der Busfahrer: »Ich kenn mich hier net aus.«
Daraufhin macht die Frau dem Busfahrer Mut:
»Aber ich kenn mich aus. Ich kann ihnen den Weg schon sagen.«
Der Busfahrer lässt sich auf ihren Vorschlag ein. Während sie ihn nun von hinten steuert, setzt sie unser Gespräch fort. Was wir hier machen würden und, dass das Hundchen auf meinem Schoß ja ganz müde aussähe. Sie ist total nett.
Nach dem Dorf Wasserknoden geht es über die Höhe nach Hohenknoden. Jetzt kriecht der Bus im Schneckentempo den Berg hoch, und wir wollen wissen, woran das liegt.
»Ho, das liegt am Gas«, sagt der Busfahrer. »Die Busse hier fahren ja alle mit Gas. Bergauf geht denen dann immer die Puste aus. Haben praktisch keine PS, kann man sagen, ho … ho.«
Und dann hammse so viele Berge, denke ich mir noch, und schaue aus dem Fenster. Hinten liegen drei Teiche, und ein Graureiher lauert regungslos am Ufer.
Langsam und leise brummend schaukelt der Bus uns weiter. Mein Blick schweift über die Höhe nun. Da, so grüne Wiesen, so viele grüne Wiesen. Auf einer erkenne ich jetzt, ganz weit hinten, einen kleinen weißen Pudel, wie er auf uns zu läuft. Immer schneller wird er. Seine Ohren wehen steif im Wind nach hinten. Er wirft seine Vorderpfoten, elegant wie ein Dressurpferd, im fliegenden Wechsel nach vorne, nur zu uns hin, so voller Herz, so voller Vorfreude, so voll überfließender Freude!
Der Jean-Paul-Weblog ist werbefrei und soll es auch bleiben. Der Betrieb ist jedoch mit Aufwand und Kosten verbunden. Deshalb würde ich mich sehr über Ihre Spende freuen. Sei sie auch noch so klein. Sie dient ausschließlich dem zukünftigen Erhalt der Webseite. Und Jean Paul kann weiterhin alle begleiten, die auf seinen Wegen wandern. Herzlichsten Dank.
Kommentar schreiben
Evelyn (Dienstag, 25 Juni 2019 12:54)
Bin heute von der Entemühle Richtung Bad Berneck gewandert. Ich hatte den von Euch beschriebenen Weg in Erinnerung....was ich dann vorfand war herzzerreißend!!!! Der romantische, schmale Wurzelweg an der Ölschnitz im Bereich Waldeslust ist für immer verschwunden. Habe nur noch einen breite Hawesta-taugliche Schneise vorgefunden. Mir blutet meine Wanderseele, aber ich habe mich mit eueren Bericht der mit viel Liebe und Sachlichkeit geschriebenen wurde ,getröstet
Hilde Zielinski (Dienstag, 08 September 2020 19:07)
Liebe Evelyn,
meine Antwort kommt spät. Verzeihen Sie mir.
Herzlichen Dank für Ihre Schilderung über das Verschwinden des Wurzelweges. Ich weine mit Ihnen. Umso mehr freue ich mich, wenn meine Worte auch ein wenig Trost sind.
Liebe Grüße
Hilde Zielinski