Noch einmal rund um den Nagler See
Den kompletten Verlauf des Jean-Paul-Wegs finden Sie hier: Literaturportal Bayern
Donnerstag, 23. August 2012. Es gibt keine Etappe, weil Peter arbeitet. Er dreht für den Mitteldeutschen Rundfunk. Ich bleibe so lange mit Fidel in Nagel. Um halb zehn bringt die Lebensgefährtin des Vermieters, die wir auch schon kennengelernt haben, ein Bügelbrett vorbei. Am Tag zuvor hatte ich den Vermieter gefragt, wo wir unsere Wäsche waschen könnten. Es sei nur Wanderkleidung für eine 30-Grad-Wäsche. Er bot an, er oder seine Lebensgefährtin könnte das für uns erledigen, was ich wiederum nicht wirklich wollte.
»Das geht schon in Ordnung«, meinte er.
Abends bekam ich die Wäsche zurück. Da fragte mich die Lebensgefährtin, ob ich nicht auch ein Bügelbrett bräuchte. Sie war sehr freundlich, aber ich musste ihr bestimmt dreimal erklären, dass die Wandersachen eigentlich nicht gebügelt werden sollten. Ich bedankte mich höflich und musste das Brett doch mitnehmen.
Peters Kommentar dazu: »Des schwoaßl ich sowieso gleich wieder ein.«
Gut, jetzt steht das Bügelbrett doch in der Ferienwohnung herum.
Das Wetter ist sonnig, und ich laufe mit Fidel um den Nagler See und zum wunderbaren Lehrpfad. Aber zunächst streifen wir ein »Labyrinth«. Hier wurde es in die am See liegende Wiese gemäht. Es ist also kein »Felsen-Labyrinth«, sondern ein »Wiesen-Labyrinth«. Daneben steht ein ansprechendes Schild, auf dem die Anlage wie folgt erklärt wird:
»Das Wiesenlabyrinth hat nur einen einzigen Weg, der siebenmal die Mitte umkreist, ständig die Richtung wechselt und mehrmals am Zentrum vorbeiführt, bis er endlich in der Mitte mündet.«
Was tun mit solch einem »Labyrinth«? Nun, man könnte zum Beispiel mit mehreren Menschen im langen Gänsemarsch die kreisförmig verschlungenen Pfade ablaufen. Auf diese Weise begegnen sich die Menschen immer wieder, manchmal laufen sie nebeneinander her, manchmal kommen sie sich entgegen. So soll diese »verquirlte« Laufprozession an den Lebensweg an sich erinnern, der sich ebenso in Mäandern einem bestimmten Ziel nähert. Je älter der Mensch wird, umso mehr bewegt er sich – so denkt er – auf sein Ende zu. Aber nein, in Wirklichkeit ist es, wie hier seine eigene Mitte. Das »Labyrinth« will erzählen, dass der Mensch auf seiner Lebensreise sich wiederholende Begegnungen und Ereignisse erlebt. Aber weil er seine Erfahrungen mit sich trägt, bewirken diese, dass ähnlich Erlebtes jetzt neu bewertet wird. Auf diese Weise ergeben sich immerfort auch neue, andere, bessere Entscheidungsmöglichkeiten – und der Mensch findet so zu seiner wahren Mitte.
Das sogenannte – und eigentlich ursprüngliche – »Wiesen- oder Rasenlabyrinth« ist ein Abbild des Lebens. Dagegen ist die andere Art Labyrinth ein Irrgarten, in dem man sich zum Spaß verirren soll. Oder in dem man unfreiwillig gefangen gehalten wird, wie der Minotauros im Labyrinth auf Kreta.
Fidel springt vergnügt vor mir her. Häufig schlägt er wie plötzlich einen Haken, läuft zurück, weil er irgendetwas Bestimmtes am Wegesrand nun doch unbedingt genauer beschnuppern will. Er liest wohl auch so etwas wie Jean-Paul-Stationstafeln. Da! Da steht doch etwas ganz Wichtiges! Das muss er noch einmal nachlesen und steckt seine Nase ganz tief in die Gräser. Er sucht offensichtlich nach einem bestimmten Halm. Der eine, auf dem alles geschrieben steht. Dann hebt er die Nase und scheint zu überlegen, wie er die Botschaft deuten soll, ist sich unschlüssig und schnüffelt alles noch einmal ab. Nein, zwei, drei Mal geht das so. Ich muss mich in Geduld üben und warte auf ihn. Jetzt riecht er noch einmal an den Nachbarhalmen. Fidel scheint die mir unbekannte Botschaft in eine Art Relation setzen zu wollen, will Vergleiche ziehen, Unterschiede herausarbeiten. Halt, da hat doch ein anderer Hund widersprochen, stellt er jetzt fest. Eine Diskussion scheint aufzuflackern. Hin und her wird jetzt geschnüffelt. Schließlich meint Fidel, so geht das nicht und setzt zum Abschluss einfach seinen Kommentar dazu. Sache erledigt, es kann weiter gehen. Bis die nächste Hundpost kommt.
Zwischenbericht vom 10. Dezember 2016
(Ich hatte den Reisebericht ja vier Jahre nach der Wanderung geschrieben)
Fidel geht es schlecht. Dünn ist er geworden, ganz klapprig. Er kann noch ein bisschen laufen und fressen geht auch noch, auch wenn es zu wenig ist. Jetzt kommt noch ein Durchfall hinzu. Ich kämpfe mit den Tränen und rufe den Tierarzt an. Muss über Einschläfern nachdenken. Ich bete zu Gott, Fidel möge doch einfach über Nacht in seinem Körbchen sterben. Einmal möchte ich um ein Tier trauern, dass ich nicht einschläfern lassen muss, einmal einfach nur friedlich einschlafen, einmal nur, bitte, für Fidel, das treueste, wahrhaftigste und heiterste Wesen, das an meiner Seite geht.
Einen Tag später: Habe vom Tierarzt Verdauungspaste bekommen, Durchfall ist weg, und jetzt ist er wieder da, der kleine Kerl. Ratzt wie eh und je unter meinem Schreibtisch und beim Laufen hüpft er immer noch munter mit seiner Hinterpfote. Ein so schönes Bild, das mich seit über sieben Jahren begleitet.
Ich erzähle nun weiter.
Was es mit der »Hundpost« auf sich hat
Der Begriff »Hundpost« stammt aus Jean Pauls zweitem Roman »Hesperus – oder 45 Hundposttage – eine Lebensbeschreibung«. Es ist im Kern die Liebesgeschichte von Viktor und Klothilde. Ich bin jedoch beim besten Willen nicht im Stande, den Roman »Hesperus« ganz zu lesen, geschweige denn die verworrene Handlung auch nur im Ansatz wiederzugeben. Was ich weiß ist, dass Jean Paul selbst, in der Rolle eines Berg-Hauptmanns, auf einer Insel wohnt und den Auftrag erhält, einen Roman zu schreiben. Für Jean Paul sind alle Romane eigentlich immer Lebensbeschreibungen. Das zu beschreibende Leben, nun, passiert zeitgleich im realen Leben auf dem Festland. Um auf dem neuesten Stand der Eeignisse zu sein, überbringt ihm ein Hund namens »Spitzius Hofmann« die Informationen. Hierfür schwimmt das Tier von Zeit zu Zeit über den See, mit einer Kürbisflasche um den Hals, in der sich die Nachrichten befinden.
Ich stöbere nun selbst ein bisschen im »Hesperus«. Hier ein Zitat aus dem »1. Hundposttag«:
Die Ouvertüre und geheime Instruktion
Ein andrer hätte dumm gehandelt und gleich mit dem Anfang angefangen; ich aber dachte, ich könnte allemal noch sagen, wo ich hause – im Grunde am Äquator; denn ich wohne auf der Insel St. Johannis, die bekanntlich in den ostindischen Gewässern liegt, die ganz vom Fürstentum Scheerau umgeben sind. Es kann nämlich guten Häusern, die ihre ordentliche literarische Strazza (den Meßkatalog) und ihr ordentliches Kapitalbuch (die Literaturzeitung) halten, nichts weniger unbekannt sein als mein neuestes Landeserzeugnis, die unsichtbare Loge ein Werk, zu dessen Lesung mein Landesherr seine Landeskinder und selber die Schriftsassen (es wäre nicht ausdrücklich gegen die Rezesse) noch mehr nötigen sollte als zum Besuche der Landesuniversität. In diese Loge hab’ ich nun den außerordentlichen Teich gesetzt, welcher unter dem Namen ostindischer Ozean bekannter ist, und in den wir Scheerauer die wenigen Molukken und andere Inseln hineingefahren und -geflastert haben, auf denen unser Aktivhandel ruht. Während daß die unsichtbare Loge in eine sichtbare umgedruckt wurde, haben wir wieder eine Insel verfertigt – das ist die Insel St. Johannis, auf der ich jetzt hause und spreche.
Der folgende Absatz dürfte anziehend werden, weil man darin dem Leser aufdeckt, warum ich auf dieses Buch den tollen Titel setzte: Hundposttage.
Es war vorgestern am 29. April, daß ich abends auf- und abging auf meiner Insel – der Abend hatte sich schon in Schatten und Nebel eingesponnen – ich konnte kaum auf die Teidor-Insel hinübersehen, auf dieses Grabmal schöner untergesunkner Frühlinge, und ich hüpfte mit dem Auge bloß auf den nahen Laub- und Blütenknospen herum, diesen Flügelkleidern des wachsenden Frühlings – die Ebene und Küste um mich sah wie eine Anziehstube der Blumengöttin aus, und ihr Putzwerk lag zerstreuet und verschlossen in Tälern und Stauden herum – der Mond lag noch hinter der Erde, aber sein Strahlen-Springbrunnen sprützte schon am ganzen Rande des Himmels hinauf – der blaue Himmel war endlich mit Silberflittern durchwirkt, aber die Erde noch schwarz von der Nacht gemalt – ich sah bloß in den Himmel … als etwas plätscherte auf der Erde. …
Ein Spitzhund tats, der in den indischen Ozean gesprungen war und nun losdrang auf St. Johannis. Er kroch an meine Küste hinauf und regnete wedelnd neben mir. Mit einem blutfremden Hunde ist eine Unterredung noch saurer anzuspinnen als mit einem Engländer, weil man den Charakter und Namen des Viehes nicht kennt. (Kennen wir von Stationstafel 41). Der Spitz hatte etwas mit mir vor und schien ein Bevollmächtigter zu sein. Endlich machte der Mond seine Strahlen-Schleusen auf und setzte mich und den Hund unter Licht.
»Sr. Wohlgeboren des Herrn Berg-Hauptmann [1] Jean Paul |
|
auf | |
Frei | St. Johannis.« |
Diese Aufschrift an mich hing vom Halse der Bestie herunter und war an eine Kürbisflasche, die ans Halsband gebunden war, angepicht. Der Hund willigte ein, daß ich ihm sein Felleisen abstreifte, wie den Alpenhunden ihren tragbaren Konvikttisch. Ich zog aus dem Kürbis, der in Marketenderzelten oft mit Geist gefüllt worden, etwas heraus, was mich noch besser berauschte – ein Bündel Briefe. Gelehrte, Verliebte, Müßige und Mädchen sind unbändig auf Briefe erpicht; Geschäftleute gar nicht.
Das ganze Bündel – Name und Hand waren mir fremd – drehte sich um den Inhalt, ich wäre ein berühmter Mann und hätte mit Kaisern und Königen Verkehr [2], und Berghauptmänner meines Schlages gäb’ es wohl wenig, u. s. w. Aber genug! Denn ich müßte nicht eine Unze Bescheidenheit mehr in mir tragen, wenn ich mit der Unverschämtheit, die einige wirklich haben, so fort exzerpieren und es aus den Briefen extrahieren wollte, daß ich der scheerauische Gibbon und Möser [zwei bedeutende Historiker des 18. Jahrhunderts] wäre (zwar im biographischen Fache nur, aber welche Schmeichelei!) – daß jeder, der ein Leben besäße und es von mir biographisch abgeschattet sehen wollte, damit fortmachen sollte, ehe ich von irgendeinem königlichen Hause zum Historiographen weggepresset würde und gar nicht mehr zu haben wäre – daß es mir gleichwohl wie andern Berghauptleuten ergehen könnte, vor denen das zerstreuete Publikum oft nicht eher den Hut abgenommen, als bis sie schon in eine andere Gasse, d. h. Welt, hinein gewesen, u. s. w. Wer besorgt letztes mehr als ich selber? Aber auch diese Besorgnis bringt einen bescheidnen Mann nicht dazu, daß er hinabkriecht und den Einbläser seines Lobredners macht; wie ich doch getan haben würde, wenn ich fort ausgezogen hätte. Meinem Gefühle sind sogar die Schriftsteller verhaßt, die mit dem Endtriller: »Bescheidenheit verbiete ihnen, mehr zu sagen« unverschämt erst dann nachkommen, wenn sie alles schon gesagt haben, was jene verbieten kann.
Jetzo wagt sich der Korrespondent mit seiner Absicht hervor, mich zum Lebensbeschreiber einer ungenannten Familiengeschichte zu machen. Er bittet, er intrigieret, er trotzt. »Er könne« – (schreibt er weitläuftiger, aber ich abbreviere alles und trag’ überhaupt diesen Briefauszug mit außerordentlich wenig Verstand vor; denn ich werde seit einer halben Stunde von einer verdammten Ratten-Bestie ungemein ärgerlich gekratzt und genagt) – »mir alles gerichtlich dokumentieren, dürfe mir aber keine andere Namen der Personagen in dieser Historie melden als verfälschte, weil mir nicht ganz zu trauen sei – er kläre mir schon alles mit der Zeit auf – denn an dieser Geschichte und deren Entwicklung arbeite das Schicksal selber noch, und er händige mir hier nur die Schnauze davon ein und werde mir ein Glied nach dem andern, so wie es von der Drechselbank der Zeit abfalle, richtig übermachen, bis wir den Schwanz hätten – daher werde der briefliche Spitz regelmäßig weg- und anschwimmen wie eine poste aux ânes, aber nachschiffen dürf’ ich dem Briefträger nicht – und so« (schließet der Korrespondent, der sich Knef unterzeichnet) »werde mir der Hund wie ein Pegasus so viel Nahrungsaft zutragen, daß ich statt des dünnen Vergißmeinnichts eines Almanachs einen dicken Kohlstrunk von Folianten in die Höhe zöge.«
Wie glücklich er seine Absicht erreicht habe, weiß der Leser, der ja eben aus dem ersten Kapitel dieser Geschichte herkömmt, das der Spitz von Eymanns Ratten bis zur Kanonade auf einmal in der Flasche hatte.
Ich schrieb Herrn Knef nur so viel im Kürbis zurück: »Etwas Tolles schlag’ ich selten ab. – Ihre Schmeicheleien würden mich stolz machen, wenn ichs nicht schon wäre; daher schaden Schmeichler wenig. – Ich finde die beste Welt bloß im Mikrokosmus ansässig, und mein Arkadien langt nicht über die vier Gehirnkammern hinaus; die Gegenwart ist für nichts als den Magen des Menschen gemacht; die Vergangenheit besteht aus der Geschichte, die wieder eine zusammengeschobene, von Ermordeten bewohnte Gegenwart, und bloß ein Deklinatorium unsrer ewigen waagrechten Abweichungen vom kalten Pole der Wahrheit, und ein Inklinatorium unsrer senkrechten von der Sonne der Tugend ist – Es bleibt also dem Menschen, der in sich glücklicher als außer sich sein will, nichts übrig als die Zukunft oder Phantasie, d. h. der Roman. Da nun eine Lebensbeschreibung von geschickten Händen leicht zu einem Roman zu veredeln ist, wie wir an Voltairens Karl und Peter und an den Selbstbiographien sehen: so übernehm’ ich das biographische Werk, unter der Bedingung, daß darin die Wahrheit nur meine Gesellschaftdame, aber nicht meine Führerin sei.
In Besuchzimmern macht man sich durch allgemeine Satiren verhaßt, weil sie jeder auf sich ziehen kann; persönliche rechnet man zu den Pflichten der Medisance und verzeiht sie, weil man hofft, der Satiriker falle mehr die Person als das Laster an. In Büchern aber ist es gerade umgekehrt, und es ist mir, falls einige oder mehrere Spitzbuben in unsrer Biographie, wie ich hoffe, Rollen haben, das Inkognito derselben ganz lieb. Ein Satiriker ist hierin nicht so unglücklich wie ein Arzt. Ein lebhafter medizinischer Schriftsteller kann wenige Krankheiten beschreiben, die nicht ein lebhafter Leser zu haben meine; dem Hypochondristen impfet er durch seine historischen Patienten ihre Wehen so gut ein, als wenn er ihn ins Bette zu ihnen legte; und ich bin fest versichert, daß wenige Leute von Stande lebhafte Schilderungen der Lustseuche lesen können, ohne sich einzubilden, sie hätten sie, so schwach sind ihre Nerven und so stark ihre Phantasien. Hingegen ein Satiriker kann sich Hoffnung machen, daß selten ein Leser seine Gemälde moralischer Krankheiten, seine anatomischen Tafeln von geistigen Mißgeburten auf sich anwenden werde; er kann froh und frei Despotismus, Schwäche, Stolz und Narrheit ohne die geringste Sorge malen, daß einer dergleichen zu haben sich einbilde; ja ich kann das ganze Publikum oder alle Deutsche einer ästhetischen Schlafsucht, einer politischen Abspannung, eines kameralistischen Phlegma gegen alles, was nicht in den Magen oder Beutel geht, beschuldigen; aber ich traue jedem, der mich lieset, zu, daß er wenigstens sich nicht darunter rechne, und wenn dieser Brief gedruckt würde, wollt’ ich mich auf eines jeden inneres Zeugnis berufen. – Der einzige Spieler, dessen wahren Namen ich in diesem historischen Schauspiel haben muß, zumal da er nur den Einbläser macht, ist der – Hund. (Er heißt Spitzius Hofmann)
Jean Paul.«
1 Es ist bekannt, wie wenig ich vom Bergwesen verstehe; ich habe daher Ursache zu haben geglaubt, bei meinen Obern um einen Sporn anzuhalten, der mich antriebe, daß ich in einer so wichtigen Wissenschaft etwas täte – und so ein Sporn ist eine Berghauptmannstelle allemal.
2 Außer den zwei Kaisern Silluk und Athnach und den vier Königen Sgolta, Sakeph Katon etc. bin ich weiter mit keinem umgegangen; und das nur als Primaner, weil wir Juristen mit Teufels Gewalt hebräisch lernen mußten; worin eben die gedachten sechs Potentaten als Akzente der Wörter vorkommen. Vielleicht meint aber der Briefsteller die großen, scharfen, gekrönten Akzente der Völker.
Ich sehe eine Bank am Ufer des Nagler Sees und nutze sie gerne für eine ausgiebige Rast. Fidel findet die Idee auch gut und springt auf meinen Schoß. Über sein blondlockiges Köpfchen hinweg erblicke ich mitten im blauen Nass in der Ferne die Insel St. Johannis. Fidel versteht sofort seine Mission und übernimmt für uns zur besseren Anschauung mal kurz die Rolle von »Spitzius Hofmann«. Gerade will er, mit einer Kürbisflasche um den Hals, über die ostindischen Gewässer zur Insel St. Johannis schwimmen, wo Jean Paul auf ihn wartet, um die so gesandten Briefe entgegenzunehmen, aus deren Inhalt der Dichter dann den Liebesroman »Hesperus« zusammenbastelt. Mal lax formuliert. Es entspinnt sich ein unglaublich verworrenes Geflecht aus Handlungssträngen, Figuren, Verwandtschaften und Nicht-Verwandtschaften, Ereignissen, Geschehnissen, Krankheiten, Behinderungen, Verhinderungen, Verleumdungen, Oster- und Pfingstbegegnungen, Lügen, Maskenspielen, Bösewichten, guten Geistern, verborgenen Schutzengeln, Duellen und mittendrin eine Liebesgeschichte, die es ganz schön schwer hat, ihre eigene, inniglichste und heimliche Szene zu finden.
Hier ist sie: … Augenblick! der nur in der Ewigkeit wiederholt wird, schimmere nicht zu stark, damit ich es ertragen kann, bewege mein Herz nicht zu sehr, damit es dich beschreiben kann! – Ach beweg’ es nur wie die zwei Herzen, denen du erschienst; du begegnest uns allen nicht mehr. …Und Klotilde und Viktor standen unschuldig vor Gott, und Gott sagte: weint und liebt wie in der zweiten Welt bei mir! – Und sie schaueten sich sprachlos an in der Verklärung der Nacht, in der Verklärung der Liebe, in der Verklärung der Rührung, und Wonnezähren deckten die Augen zu und hinter den erleuchteten Tränen stiegen um sie verklärte Welten aus der dunkeln Erde auf und der Abendspringbrunnen legte sich glimmend wie eine Milchstraße über sie herüber und der Sternenhimmel schlug funkelnd über sie zusammen und das entweichende Vertönen spülte die aufgehobnen Seelen vom Erdenufer los. … Siehe! da trieb ein kleines Wehen die entfliegenden Laute heißer und näher an ihr Herz, und sie nahmen ihre Tränen von den Augen; und als sie umherschaueten in der Gegenwart: so bewegte das melodische Wehen alle Blüten im Garten, und die große Nacht, die mit Riesengliedern im Mondschein auf der Erde schlief, regte vor Wonne ihre Kränze aus abgeschatteten Gipfeln und die zwei Menschen lächelten zitternd zugleich und schlugen miteinander die Augen nieder und hoben sie miteinander auf und wußtens nicht. Und Viktor konnte endlich sagen: »O ! möge das edelste Herz, das ich kenne, so unaussprechlich selig sein wie ich und noch seliger! So viel hab’ ich nicht verdient.« – Und Klotilde sagte in einem sanften Tone: »Ich bin den ganzen Abend meistens allein geblieben, bloß um vor Freude zu weinen, aber er ist zu schön für mich und die Zukunft.« … Die umkehrenden Gespielinnen kamen den Garten herauf, und beide mußten auseinander scheiden; und als Viktor noch mit erstickten Lauten sagte: »Ruhe wohl, du edle Seele – solche Freudentränen müssen immer in deinen Augen stehen, solches melodische Getöne müsse immer um deine Tage rinnen – Ruhe wohl, du himmlische Seele«; und als ein Blick voll neuer Liebe und ein Auge voll neuer Tränen ihm dankte; und als er sich tief, tief bückte vor der Heiligen, Stillen, Bescheidnen und aus Ehrfurcht nicht einmal ihre Hand küßte: so umarmte in der Unsichtbarkeit ihr Genius seinen Genius vor Entzücken, daß ihre zwei Kinder so glücklich waren und so tugendhaft. – – …
Viktor geht allein durch den nächtlichen Park zurück und sinkt letztendlich in glühenden Schlaf: … nur einige gebrochne Laute sang er noch in sich … nur einigemal regte er noch die liegenden Arme zu Umfassungen … und nur im Ersterben des Schlummers und der Wonne stammelte er einmal noch dunkel: Geliebte! …
Und so schön, großer Allgütiger, laß uns andere Menschen in der letzten Nacht entschlafen wie Viktor in dieser, und laß es auch unser letztes Wort sein: Geliebte! …
Jean Paul »Hesperus – Dritter Pfingsttag oder 35. Hundposttag«
Wie hinreißend! Es sind Beschreibungen wie diese, und das Buch ist voll davon, die völlig ausreichen, um es zu lieben. Es wurde ein Erfolg.
Nun laufe ich mit meinem »Spitzius Hofmann« weiter um die »ostindischen Gewässer«.
Der Nachmittag geht zur Neige. Wir streifen die restlichen Lehrpfadtafeln und trödeln uns nach Hause.
Peter ist noch immer nicht zurück. Ich gebe Fidel Futter und bereite das Abendessen vor, sitze am kleinen Tisch und schnippele Gemüse. Da taucht der Vermieter wieder ganz dicht vor meinem Terrassenfenster auf. Neben dem Fenster ist außen ein Schalter, mit dem er die Bewässerungsanlage seines Gartens in Gang setzen kann. Nach dem Drücken des Schalters wartet er die ganze Zeit, dicht an der Glasscheibe stehend, bis alles nass ist. Mir bereitet das Unbehagen. Aber kaum ist er fertig, fängt er an, die Blumenkästen zu gießen. Gießkanne für Gießkanne. Es gibt Menschen, die haben wenig ausgeprägte Grenzgefühle. Ich gehe hinaus und gebe ihm das Bügelbrett zurück, mit einem herzlichen Dankeschön.
Etwas später kehrt Peter zurück. Drehtage dauern meistens länger. Heute gibt es Bratkartoffel, Gemüse, Salat und einen Fernsehfilm, den Peter verschnarcht. Ich gucke noch lange, bin nicht müde genug.
Der Jean-Paul-Weblog ist werbefrei und soll es auch bleiben. Der Betrieb ist jedoch mit Aufwand und Kosten verbunden. Deshalb würde ich mich sehr über Ihre Spende freuen. Sei sie auch noch so klein. Sie dient ausschließlich dem zukünftigen Erhalt der Webseite. Und Jean Paul kann weiterhin alle begleiten, die auf seinen Wegen wandern. Herzlichsten Dank.
Kommentar schreiben