Nagel – Fichtelsee
Den kompletten Verlauf des Jean-Paul-Wegs finden Sie hier: Literaturportal Bayern
Samstag, 18. August 2012. Heute haben unsere Vermieter Peter eine Zeitung mitgegeben, weil darin steht, dass Wunsiedel dreizehn Spaniern Arbeit und ein Zuhause gibt. Die Stadt will nicht unter die Zahl von 10 000 Einwohner kommen, wegen der Fördergelder, sagen sie. Landflucht sei hier das Riesenproblem. Die »lichten« Wunsiedler reagieren darauf mit Zuwanderungsförderung.
Mit dem Auto fahren wir nach Nagel. Von dort aus geht es zu Fuß zum Fichtelsee. Wir freuen uns, weil wir den See schon kennen. Von unserem damaligen Zuhause, in Hollfeld, sind wir oft zum Baden an den Fichtelsee gefahren. Er ist für unseren Geschmack einfach paradiesisch. Es gibt viele schattige Plätze direkt am Wasser, aber auch sonnige Liegewiesen. Vor allem darf man mit Hund dorthin. Außerdem gibt es dort die Seeterrasse des Waldhotels »Am Fichtelsee«. Für uns megageil, denn man kann beim Biertrinken herrlich den anderen bei ihren Bade- und Bootchenfreuden zuschauen.
Das Wetter ist wieder pralleschön und leider auch pralleheiß. Aber bald schon gelangen wir in den kühlen Wald und auf erfrischende Graswege. Sind ohne Worte glücklich.
Dann rechts des Weges entdecken wir einen, nein zwei, ja noch mehr, große Ameisenhaufen. Seit meiner Kindheit habe ich keine mehr gesehen!
Die Mixturen meiner Mutter
Mein Gott, ich darf ja heutzutage kaum erzählen, woran sie mich erinnern. Meine Mutter, sie ist längst gestorben, war damals schon, in meiner Kindheit, ziemlich auf Kräutersammeln und Tinkturenmixen fixiert. Sehr zum Leidwesen von uns Kindern, denn wir waren ihre wehrlosen Patienten und Versuchskaninchen.
Eines ihrer Wunderallheilmittel war der »Ameisenschnaps«. Auf unseren so häufig unternommenen Spaziergängen kundschaftete sie die passenden, etwas versteckter liegenden Ameisenhaufen für ihr gut gemeintes Vorhaben aus. Um dann oben, mitten auf der Kuppel, mit einem Ast ein Loch hineinzustoßen, und da die, mit etwas Zucker gefüllte, offene Flasche hineinzustecken. Nach einer Woche gingen wir die Flasche wieder holen. Dann war sie bis oben hin mit zappelnden Ameisen gefüllt. Mama stopfte den Korken drauf und war zufrieden. Zuhause kippte sie einfach Schnaps drüber. Die gestressten Ameisen pissten noch einmal ordentlich in den Alkohol, bevor sie starben. Die Flasche wurde für eine Weile auf die Fensterbank in die Sonne gestellt und dann abgegossen. Mit dem braunen Sud, dem Ameisenschnaps, wurden wir eingerieben, ungeachtet jeglicher Diagnose. Der Ameisenschnaps war laut Mama so kostbar, weil er bei allem half. Ob wir die Tinktur zu trinken bekamen, entzieht sich meiner Erinnerung.
Was für eine Freveltat, würde man heute sagen. Seit 2005 gehören die hügelbauenden Waldameisen zu den besonders geschützten Tierarten. Schon nur im Hügel herumzustochern kann den kleinen, hochsensiblen Völkerstaat ruinieren und ist ein Straftatbestand.
Noch eine ganze Weile sind wir ob des liebreizenden Wiesenweges glücklich, dann werden wir wieder von Forstmaschinenbahnen gequält, vor allem, weil wir durch die verheerenden Hinterlassenschaften der Holzindustrie irren müssen. Und hier steht irgendwo mittendrin Stationstafel 67, wie hingeschrieben.
Verregnete Natur-Schulstunde
Rektor Fälbels Methode auf lehrreichen Schulreisen ist, jeden Tag eine andere Wissenschaft kursorisch vorzunehmen: heute sollte die Gesellschaft […] die schöne Natur betrachten unter Anleitung von Sturms Betrachtungen der Natur den ersten Band. Sturm wurde ausgepackt und aufgeschlagen, und jetzt war erforderlich, daß man die Augen vergnügt in der ganzen Umgebung herumwarf; aber ganz fatal liefs ab. Nicht etwa darum, weil Regenwolken mit der Sonne aufgingen und weil der Rektor die Sturmische Betrachtung über den dritten Juni und über die Sonne plötzlich zumachen mußte, da er kaum die schönen Worte abgelesen: ›Ich selbst fühle die belebende Kraft der Sonne. Sobald sie über meinen Scheitel aufgeht, breitet sich neue Heiterkeit in meiner Seele aus.‹ Denn das verschlug wenig, da ja zum Glück in den nämlichen Band auch eine Betrachtung auf den siebzehnten April und über den Regen eingebunden war, die man denn augenblicklich aufsuchte und verlas; sondern das eigentliche Unglück dabei war, daß, da […] ich (Fälbel) folgendes hatte betrachten lassen: ›In dem eigentlichsten Verstand verdient der Regen ein Geschenk des Himmels genannt zu werden. Wer ist imstande, alle Vorteile des Regens zu beschreiben? Lasset uns, meine Brüder, nur einige derselben betrachten!‹ – daß ich dann abschnappte, weil ich mußte – – und wahrlich, wenn vor einem Präzeptor (Lehrer), der mit den Seinigen Sturmische und eigne Betrachtungen über den Regen auf der Kunststraße anzustellen vorhat, jede Minute kreischende Fuhrmannnswägen mit stinkendem Kabljau vorüberziehen, unter denen ein keifender Hund unversehrt mit hinspringt – wenn ferner taumelnde Kohorten von Rekruten, die den Schulmann noch stärker ansingen und auslachen als feinere Werbeoffiziere selber, und wenn Extraposten, die er grüßen soll, ihm über den Straßendamm entgegentanzen: so muß er wohl den Pastor Sturm einstecken, es mag regnen oder nicht.
Jean Paul »Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg«
Oft denke ich darüber nach, wie denn das Stationstafel-Aufstellen zustande gekommen ist. Mussten dafür kleine Grundstücke gekauft werden? Sicherlich Genehmigungen eingeholt werden? Wahrscheinlich wurde hier zur Zeit des Tafelaufstellens gar nicht intensiv gearbeitet, war alles sanft und ruhig? Und das hier, die Verwüstung, ist jetzt alles nur Zufall. Gott sei Dank ist heute kein lärmender, gewalttätiger Harvester unterwegs.
Unterdessen kriegen wir es langsam mit einem ganz anderen Ungeheuer zu tun: dem inneren Schweinehund. Jetzt ist es schon über 30 Grad heiß und der Weg hört nicht auf, langsam und kaum merklich, bergauf zu gehen. Wir schwitzen, obwohl es durch kühlen Wald geht.
Neben dem Weg tut sich nun ein freier Platz auf, auf dem ein großer Haufen Hackschnitzel deponiert wurde.
Hm. Was ist das hier? Ich weiß es auch nicht, jedenfalls hat man schon gleich eine Infotafel dazugestellt. Wir sollen wohl friedlich gestimmt werden, schießt es mir durch den Kopf. Was soll’s, wir laufen weiter und gelangen an einen wirklich erfrischenden Rastplatz, eine Bank am kleinen Gregnitz Seeweiher, mitten im Wald.
Kaum dass wir uns niedergelassen haben, steht wie von Geisterhand hierhergestellt plötzlich ein hübscher Golden Retriever neben Fidel. Ebenso wie aus dem Nichts erscheint sogleich der Besitzer. Der Retriever tut nun das, was Retriever tun müssen: baden. Bestimmt fünfmal hintereinander schwimmt er zurück zum Ufer und springt wieder hinein. Und so schnell die kleine »Mensch- Tier-Gemeinschaft« erschienen ist, so schnell ist sie auch wieder weg. Wir genießen den frischen Frieden noch ein Weilchen. Fidel macht die Hitze auch zu schaffen, aber Pudel sind wasserscheu und baden nicht.
Hier im Wald scheint der Gregnitz Seeweiher ein beliebter Ort zu sein. So dösen wir gerade vor uns hin, da vernehmen wir wieder ein Geräusch. Jetzt steht plötzlich ein Radfahrer direkt neben unserer Bank. Ein gut aussehender älterer Mann mit Silberbärtchen. Der sagt zu uns etwas unwirsch, wir säßen an seinem See.
Nun denn. Es geht weiter. Für uns wird der Weg langsam zu einer Art Marathonlauf, so ausgemergelt fühlen wir uns. Wir haben ja null Kondition, sind eher von der langsamen Sorte. Beim Radfahren war ich schon in Jugendjahren so langsam, dass ich sogar von Rentnergruppen überholt wurde. Da konnte ich strampeln, wie ich wollte. Ich glaube, das liegt an den Genen. Ich transportiere einfach zu wenig Sauerstoff ins Blut. Das isses.
Zauberformel »Dialekt«
Der Weg ist schön, ja, kurvig, kleine Felsen säumen unsere Pfade und ein lustiger Mischwald turnt neben uns her.
Ich stöhne: »Wieso geht es hier verdammt nochmal dauernd bergauf, ich dachte, ein See liegt naturgemäß unten in einem Tal!« Man merkt es schon: Ich werde übellaunig. Dann stimmt die Weltwahrnehmung sowieso nicht mehr. Ein gutes Gegenmittel ist da oft, Dialekt zu sprechen, auch wenn man es gar nicht richtig kann. Ich beschwöre nun den Weg mit fremdklingenden Worten, die wie Zauberformeln wirken sollen: »Gehst jetzt rabi, sog i!« Was heißen soll: Du gehst jetzt hinunter, sage ich.
Peter schlägt oberpfälzisch vor: »Jetz geh oiche!«
»Oiche? Was ist denn das?«, frage ich.
»Na, runter«, sagt er.
»Ok, dann geh jetzt oiche, du soiche!« Was heißen soll: Geh’ jetzt runter, du Seuche.
Aber der Weg tat uns natürlich nicht den Gefallen. Wir litten ja eher wegen der Hitze, denn die Steigung war ziemlich leicht.
Die 10. Tafel »Landschaft zu Jean Pauls Zeiten« ist dieses Mal doch informativ, finde ich.
Wo entspringt die Naab?
(zwischen Nagel und Fichtelsee)
In der Karte von Stierlein ca. 1780 wird die Naab noch mit östlichem Ausfluss aus den Fichtelseemoor dargestellt. Zu dieser Zeit gab es Beschreibungen, dass die heutige Gregnitz die Naab sei. Insbesondere in der Folgezeit wurden die Quellflüsse und der Oberlauf des Main in den Patschenbach über das Fichtelseemoor Richtung Fichtelberg gelenkt.
J. Th. B. Helfrecht beschreibt um 1800 diese Umleitungen am Rande.
»Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wollte man die Nabe zu den Eisenwerken an der (ober-)pfälzischen Grenze durch einen tiefen Graben verstärken, womit man einen Teil des Sumpfes abzuleiten gedachte. Zugleich sollte der Graben ein Grenzzeichen sein, aber der Erfolg entsprach dieser Anstalt nicht.«
Heute entspringt die Naab auf halber Höhe des Ochsenkopfes und die Gregnitz ist ein starker Seitenbach, der bei Ebnath in die Naab mündet.
Der Fichtelsee liegt 750 Meter hoch. Wir jammern ja auch gar nicht. Konzentrieren wir uns doch einfach auf unsere Vorfreude: auf kühles Bier am See.
Noch einmal dürfen wir vorher ein wenig Jean Paul lesen, auf der Stationstafel 68.
Schatz im Nebel
Der Mensch in den Nebeln der Weltgeschichte glaubt, der Unendliche sei verdunkelt, ob es gleich nur die Erde ist; ebenso sehen wir für eine Sonnenfinsternis an, was eigentlich eine Erdfinsternis ist.
Man muss es sich nicht verdrießen lassen, dass man einen Lebensplan, ein Buch, eine gute Handlung, seine eigene Besserung nur halb ausführen kann – alles auf Erden wird unterbrochen und nur Gott macht sein Ganzes.
Jeder sollte das Heilige in sich aufsuchen, worein Gott den Schatz seiner Kräfte niederlegt.
In jedem Herze bleibe nur die Liebe und das Recht.
Das werden die zentralen Sätze in meinem Leben. Fast eigentlich mehr nicht. Wie Jesus einst sagte: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Mehr braucht man nicht an Religion, an Weisheit, an Bedienungsanleitung, an gerechtem Handeln, und überhaupt. Und was soll das Gehetze auf der Welt? Nichts wird je fertig werden. Welche Pläne gehen jemals wirklich auf? In-the-long-Run gesehen? Eigentlich interessiert mich heute nur noch heiteres Lachen.
So, und dann fällt der elende Forstweg endlich ein wenig ab. Hoffnung auf den See macht sich breit. Wanderer kommen uns entgegen. Das bedeutet: gute Aussicht auf Menschen und Leben. Jetzt bohnern Badegeräusche meine Ohren glatt und der See blitzt grünblau zwischen Fichten. Wir werden schneller, nehmen eine Abkürzung durchs Gehölz, stolpern über einen von eiligen oder müden Badegästen geschaffenen Trampelpfad und landen fast direkt auf der Seeterrasse des Waldhotels. Die nächsten Stationstafeln am Fichtelsee müssen warten. Morgen werden wir hier baden gehen und sonst nichts machen.
Jetzt gibt es erst einmal frisches Bier zum Abkühlen. Da ich am liebsten aus Henkelkrügen trinke, frage ich die Bedienung:
»Was haben Sie denn für ein Bier im Krug?«
Die Bedienung wundert sich kurz über meine Frage, denn die meisten wollen nur die Biersorten wissen. Dann antwortet sie unbeeindruckt:
»Da hommer des Steinbier von Leikheim, in Flaschen. Do hättn wir passende Krüge dazu, wenns des wolln?«
»Klingt gut«, antworten wir, »bitte zweimal davon.«
Und schon bald steht unsere Erlösung huldreich vor uns. O kühler Quell erquicke uns, beten wir zum guten Bier in feuchtkühlen Steinkrügen. Und es dauert nicht lange, bis Peter der vorbeieilenden Bedienung noch fix zuruft:
»Kann ich noch eins haben? Das Krügerl hat a Loch!«
Sie kommt mit der zweiten Bierflasche zurück und sagt:
»Jetzt müssens aber schauen, dass net wieder ausläuft.«
Fidel schläft unter der Bank, derweil genießen wir fideles Treiben auf dem See.
Ein Mädchen ruft zur Mitschwimmerin:
»Ich bin schon mindestens zehnmal hier durchgeschwommen!«
»Ja, Wahnsinn!«, antwortet die andere.
Vor lauter Strandbarfeeling bestelle ich mir jetzt noch einen Cocktail mit dem Namen »Sex on the Beach« und Peter lässt die Bügelflasche knallen.
So bleiben wir bestimmt noch zwei Stunden sitzen und genießen die letzten Sonnenstrahlen. Dann rufen wir ein Taxi. Es soll uns direkt am Waldhotel/Seeterrasse abholen, denn wir könnten keinen Schritt mehr tun, so platt sind wir, immer noch. Langsam trotten wir zum Parkplatz, zu dem das Taxi kommen wird. Auch die Badegäste schleichen nach Hause. Wir schleppen unsere Rucksäcke, sie schlurfen ihre Schlauchboote knapp über dem Boden zum Campingplatz.
Die Taxifahrerin kommt mit ihrem Taxi aus Bischofsgrün, erzählt sie uns. Unser Ziel, den Ort Nagel, kennt sie allerdings nicht. Nach circa neun Kilometern Fahrt kommen wir in Nagel an. Auf dem Taxameter kann ich 17,70 Euro lesen. Ich bin jetzt froh, dass es nicht zu teuer wird. Doch da sagt die Taxifahrerin:
»Dann machen wir 37 Euro?«
Den Satz singt sie als Frage. Auf dem Rücksitz fällt mir fast die Kinnlade runter. Peter sagt nichts, gibt kein Trinkgeld. Ganze 20 Euro hat sie für die Fahrt von Bischofsgrün nach Fichtelberg aufgeschlagen. Egal wie man das jetzt denkt, aber das ist für »Wandern« irgendwie unverhältnismäßig. Der gute Wunsiedler fährt uns für einen Euro auf die Luisenburg, wo der Bischofsgrüner schon mal gerne saftig dran verdient.
Ein am Autofenster vorbeifliegendes Blumenfeld segnet mich schnell mit Heiterkeitswasser. Es wirkt sofort.
Am Abend kochen wir Reste und ich suche im Internet nach einer Folgeferienwohnung. Der Jean-Paul-Weg orientiert sich langsam südlicher, dorthin müssen wir auch unseren Ferienwohnungs-Stützpunkt verlagern. Wir entscheiden uns für das schöne Dörfchen Nagel mit Sommersee. Ich finde auch gleich eine neue und preiswerte Wohnung und buche sie schon ab morgen. So schnell geht das heutzutage. Unseren Herzen versetzt es fast einen kleinen Stich, denn das bedeutet Abschied von hier, wo wir schon so zuhause waren. Den schmerzlichen Gedanken schiebe ich ganz schnell weg.
Fidel knabbert Schweineohr. Die Welt ist wieder gut und rund und müde geworden. Peter hält das angedachte TV-Programm nicht durch und kippt mir schnarchend auf die Schulter. So tapfer kämpft er immer gegen den Schlaf, doch dann überwältigen ihn die Forderungen der Natur unerwartet plötzlich. Trotz heißer Nacht schlummern wir unter dem warmen Dach alle sehr fein.
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